Der Mensch als Partner Gottes

Guardinis Neubesinnung auf die Erfahrbarkeit der Gnade in Geschichte und Kultur bietet Denkanstösse, wie heute unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen von ihr gesprochen werden kann.

Ein Problem, vor das sich heutige Theologie angesichts der (post-)säkularen Selbstverständigung des Menschen gestellt sieht, ist das prekäre Ideal der Gnadenlosigkeit. Von Gnade ist kaum noch die Rede. Sie scheint überholt, gesellschaftlich nicht von Belang zu sein und nicht so recht zu unserem selbstbewussten Denken zu passen. Für einen Gegenentwurf lässt sich Guardini heranziehen. Welche Möglichkeiten legte Guardini für uns heute bereit, um Wege aus der Wirkungslosigkeit des Gnadenbegriffs in der säkularen Lebenswelt zu finden, die man ohne seine Anstösse nur schwer erkennt?

Der Weltbezug des Glaubens

Das denkerische Klima der Zwischenkriegsjahre war mit Spannungen geladen, die Verzweiflung über das Verstricktsein in die historisch bedingte Subjektivität wuchs. Die Kirche stand dieser Entwicklung zunächst wie «ein starres Lehrgebäude» gegenüber, das für unzählige voneinander getrennte Einzelwahrheiten eintrat, die im Letzten aber keine Bedeutung mehr für das menschliche Leben zu haben schienen. Der protestantische Theologe F.W. Graf beschreibt die durch die krisenreichen Ereignisse angestossene Phase der Entwicklung als eine Zeit wissenschaftlicher Umbrüche, die sich durch den Vollzug einer neuen Zentralperspektive auszeichneten und nicht nur einzelner Aspekte. Auch im Medium der Theologie begann sich ein neues Wirklichkeitsverständnis überhaupt zu entwickeln.

Guardini war kein systematischer Denker. Seine Stellungnahmen ergaben sich aus konkreten Anlässen und das leitende Interesse war das eines Seelsorgers und Erziehers. Guardini verzichtete auf die formale Theologie, weil er sich von dieser «etablierten» Wissenschaft absetzen wollte. Gerade hierin scheint sich die für ihn charakteristische Art herausgebildet zu haben, Vorläufer und Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils zu sein. Seine Fähigkeiten kamen im katholischen Jugendbund Quickborn zur Entfaltung, dessen geistige Leitung er zu Beginn der 1920er-Jahre übernahm. Er erkannte die Wichtigkeit der Freiheit des Menschen und sah zugleich die Gefahr, die entsteht, wenn die menschliche Freiheit absolut gesetzt wird, weil sie so ihre Kräfte verschwendet. «Freiheit ist Wahrheit […]. Freiheit ist die Weise, wie einer ganz er selbst ist und zu allen Dingen im rechten Verhältnis steht. Zu dieser Freiheit aber führt der Weg durch den Gehorsam.»1 Dabei geht es jedoch nicht um Heteronomie. Tatsächlich ist dieses Spannungsverhältnis von Freiheit und Bindung für den Menschen sehr bedeutsam: «Das Recht auf eigen- ständiges Auswirken des eigenen Wesens, Urteilens, Wollens ist auch ein ursprüngliches. Und unser Leben soll beides sein: lauterer Gehorsam und zuversichtliche Selbständigkeit.»2

Guardini hat in seinem Werk, das im Umgang mit seinen Mitmenschen wurzelt, neue Akzente im Denken über Gott und Mensch gesetzt und so eine Neubesinnung in der Gnadenlehre ausgelöst:

Der theozentrische Charakter der Gnade

Gnade ist für Guardini Gott selbst, der sich mitteilt und in der Geschichte Heil wirkt. Dieser Aspekt bewahrt den Menschen davor, sich selbst zum Massstab zu machen. «Den einzigen wirklichen Schutz bildet die Offenbarung, das heisst aber die Gnade im strengen Sinne des Wortes. Sie zeigt ihm, was höher ist als alles menschliche Schaffen, und bewahrt ihn davor, sich mit Gott zu verwechseln.»3 Guardini gelang es damit, wieder die Mitte der christlichen Botschaft und ihre humanisierende Qualität für jede Kultur neu bewusst zu machen. Die lebensnahe Gestalt Jesu stellt die eigentliche Grundkategorie der Offenbarung dar. Dabei ist der Mensch aber nicht von seiner Verantwortung befreit. Er ist vielmehr durch Gott befähigt, diese voll zu ergreifen. «Gott ist gar nicht so, dass er eine fertige Wirklichkeit und auszuführende Forderungen entgegenstellt. Sondern er hat die Fülle der fordernden Wirklichkeit und zu erratenden, mit rechter Initiative u. Schöpfersch[aft] zu erfassenden Möglichkeit erzeugt. Die Welt wird tatsächlich so, wie der Mensch sie macht» (Archiv Mooshausen)4.

Der personale Charakter der Gnade

Gemeinsam mit der heilsgeschichtlichen Begründung wird die Gnade auch wieder als Beziehungsgeschehen erkannt: «[In der Offenbarung] ist Er [Gott] dem Menschen entgegengetreten, hat ihn angerufen und in ein neues Verhältnis des Ich-Du aufgenommen.»5 Guardini wirkt zu seiner Zeit als Pionier, indem er die Gnade als ein Geschehen zwischen Personen herausstellt. Es gelingt ihm, dadurch die neuscholastische Verobjektivierung der Gnade zu überwinden. Gnade ist in diesem Sinn personale Begegnung zwischen Gott und Mensch.

Der Erfahrungscharakter der Gnade

Guardini nimmt Korrektur an der einseitig individualistischen Auffassung der Gnade. Es gelang ihm, die Gnade nicht nur wie bei Augustinus rein psychologisch zu verstehen und nur auf die Innerlichkeit zu beziehen, sondern die christliche Existenz in ihrem Selbst- und Weltbezug zu konkretisieren und den Glauben in dem bisher übersehenen Zusammenhang von subjektiver Aneignung und geschichtlicher Vermittlung zu sehen, wodurch seine kulturelle Kraft erschlossen wurde. Gnade und Natur können nicht getrennt gedacht werden, weil lebendig-konkret keine menschliche Natur ohne Gnade existiert. Gnade wird bei Guardini nicht als passives Widerfahrnis, sondern als Gabe erfasst, zu der sich der Mensch verhalten kann.

In dieser Zeit wirkte Guardinis These wie ein Befreiungsschlag. Es war Guardini stets ein Anliegen, Glaube und Kultur nicht im Gegensatz zu sehen. Es darf nicht so sein, «dass der Mensch die Welt erfahre und dann noch, ausserdem, gläubig sei; ebensowenig aber, dass er glaube, und die Welt nur nebenher als nun einmal nicht erlässliches Realisationsfeld des Gläubigseins sehe».6

Nach diesem kurzen Durchgang durch einige Angelpunkte in Guardinis Werk wendet sich das Interesse der Frage zu, wo Wegweisendes für die Gegenwart liegen könnte.

Zukunftsweisendes Denken

Was Guardini geleistet hat, ist unter ähnlichen, aber neuen Bedingungen und Herausforderungen für die Zukunft zu tun. Er bedenkt die religiöse Erfahrung im lebensweltlichen Umfeld und ihre Integration in den Glauben. Damit bietet er Erschliessungspotenzial für Herausforderungen, die durch eine Pluralisierung der Lebensentwürfe und Weltdeutungen den Menschen entwurzeln. Guardini war auf seine Art ein Denker und Deuter der Pluralität, was nicht zuletzt die Vielfalt und grosse Anzahl der Zuhörer in seinen Vorlesungen und Predigten zeigte. Er wollte Kräfte für eine genuin menschliche Kultur und Religion mobilisieren und der Gefahr einer geistigen Desorientierung abhelfen.

Wenngleich in zunehmendem Mass heute nur das Nebeneinander von verschiedenen Modellen akzeptiert wird, erscheint die Frage nach der Ganzheit des Menschen weiterhin legitim zu sein, weil der Anspruch, sich nicht vollständig im Detail zu verlieren, nie ganz preiszugeben ist. Sich nicht auf die menschliche Autonomie beschränken zu müssen, stellt gerade die grosse Chance dar, an die uns Guardini erinnert. Er plädiert dafür, die Grundsituation des Menschen anzunehmen und neue Möglichkeiten zur Gestaltung des Selbst- und Weltbezugs in der Gottesbeziehung zu suchen, weil «Gottes Wirken die Bereitschaft des Menschen voraussetzt und sich in dem Masse entfaltet, als dieser sich öffnet und mitgeht».7 Gnade enteignet den menschlichen Willen nicht, sondern ergreift ihn als Leidenschaft, belebt, inspiriert und fordert zur freien Selbstidentifikation heraus. Gnade «ist das einfachhin Nicht-Selbstverständliche und doch zugleich Letzt-Erfüllende»8. Der Mensch, der sich auf Gott verlassen kann, ist frei von den ständigen Versuchen der Selbstbegründung und -sicherung. Das dispensiert ihn nicht vom Tun, aber von dessen Tyrannei.
 
Auch der Mensch im dritten Jahrtausend ist auf der Suche nach Orientierung und bleibt angewiesen auf eine existenznahe Auskunft, die sich nicht in blossen Parolen oder abstrakten Worthülsen erschöpft. Die theologische Tragfähigkeit von Guardinis Biografie besteht darin, die Quelle des Glaubens nicht aus dem Blick zu verlieren und gleichzeitig deren kulturelle Qualität stark zu machen. Gerade auf diese Weise wird ein Zeichen gesetzt, dass der Mensch in jeder Phase der Geschichte als Partner Gottes gewollt ist und von hier aus seine Identität gewinnt. Das wäre wohl der wichtigste Fingerzeig für die Zukunft, der sich aus seinem Werk für die Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen ergeben könnte.

Michaela Starosciak

 

1 Guardini, Romano, Vom Sinn des Gehorchens (1920), in: Wurzeln eines grossen Lebenswerks. Aufsätze und kleine Schriften Band 1, Mainz/Paderborn 2000, 372–385, 373.

2 Ebd., 378.

3 Guardini, Romano, Freiheit Gnade Schicksal, München 1956, 159.

4 Zit. nach: Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Der neue Anfang als Grundmotiv Romano Guardinis: «Die Welt wird immerfort», HerKorr 71 (2017), 33.

5 Guardini, Romano, Freiheit Gnade Schicksal, München 1956, 142.

6 Guardini, Romano, Stationen und Rückblicke, Würzburg 1965, 21.

7 Ebd., 85.

8 Guardini, Romano, Freiheit Gnade Schicksal. München 1956, 148.

 


Michaela Starosciak

Mag.a theol. ist Promovendin am Institut für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen theologisch-anthropologische Themen (besonders die Frage von Gnade und Freiheit), philosophische Grundlagen der Theologie, sowie das Verhältnis von Katholizismus und Moderne.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente