Demut – die Tugend aller Tugenden

 

Silberdistel

Sich zurückhalten
an der erde
 
Keinen schatten werfen
auf andere
 
Im schatten

der anderen
leuchten

(Reiner Kunze)


«Habet die Liebe, bewahrt die Demut, die freiwillige Armut sei euer Reichtum.» Diese Worte gelten als geistliches Testament des hl. Dominikus an seine Brüder. Schaut man auf das Leben des Dominikus, wird schnell klar, dass diese drei Ratschläge eng miteinander verschlungen sind. Dominikus muss ein sehr liebenswürdiger Mensch gewesen sein. Er wurde von allen geliebt, weil auch er alle liebte. Es ging ihm um das Wohl jedes einzelnen Menschen. Um seine eigene Person machte er nicht viel Aufsehen. Den Predigerorden gründete er, um sein Ziel, das Heil der Menschen, wirksamer verfolgen zu können, nicht weil er ein Ordensgründer sein wollte. Auf dem ersten Generalkapitel bat er sogar darum, die Verantwortung für den Orden abgeben zu dürfen, um mehr Zeit und Kräfte für die Predigt zu haben. Als er trotzdem zum Ordensmeister gewählt wurde, sorgte er aber weiterhin engagiert für seinen Orden.

Als eines der wichtigsten Mittel für die Verkündigung wählte Dominikus die Armut. Sie ist Teil der Lebensweise Jesu und der Apostel. Dominikus wusste, dass Verkünder des Evangeliums nur glaubwürdig sind, wenn sie dieses auch leben. Armut fordert jedoch viel Demut. Sie führt einen Menschen dazu, auf andere angewiesen zu sein.

Für mich als Dominikanerin ist das Vorbild meines Ordensvaters eine Anregung, all mein Tun auf das Ziel unseres Ordens auszurichten und wie Dominikus immer das Heil der Menschen im Blick zu haben. Nicht meine Person soll im Mittelpunkt stehen. Vielmehr geht es darum, in der Gemeinschaft, in der ich lebe, die mir aufgetragene Aufgabe mit ganzem Herzen und Engagement zu erfüllen, um gemeinsam mit meinen Mitschwestern und -brüdern das Ziel unseres Ordens zu erreichen. Dazu gehört auch die freiwillige Armut. Darunter verstehe ich nicht, ein Manko zu wählen, sondern sie bedeutet vielmehr eine demütige Haltung. Es geht darum, darauf zu verzichten, im Mittelpunkt zu stehen und alles in der Hand zu haben. Stattdessen gilt es, eine empfangende Haltung einzunehmen, die alles aus der Hand Gottes und von den Mitmenschen erwartet.

Dominikus war ein Mann des Wortes Gottes. Kein Wunder findet man die Demut, die er uns durch sein Leben lehrt, auch in der Heiligen Schrift. In Phil 2,1–11 ermahnt Paulus die Mitglieder der Gemeinde von Philippi, einander in Liebe verbunden zu sein und nichts aus Prahlerei und Streitsucht zu tun. Vielmehr soll einer den anderen in Demut höher einschätzen als sich selbst. Christus soll das Vorbild sein, er, der sogar sein Gottsein preisgab, zum Geringsten der Menschen wurde und darum von Gott über alle erhöht wurde.

Ich weiss, das sind hohe Ideale. Wie gut, dass unser Ordensvater Dominikus den Brüdern auf dem Sterbebett versicherte, dass er ihnen nach dem Tod noch nützlicher sein werde. So bete ich mit allen Brüdern und Schwestern des Ordens: «Vater (Dominikus), erfülle dein Versprechen und steh uns bei durch dein Gebet.»

Sr. M. Manuela Gächter OP

 

* Sr. M. Manuela Gächter ist Dominikanerin der Gemeinschaft in Cazis. Sie studierte Theologie an der Theologischen Hochschule in Chur. Dort arbeitet sie zur Zeit an einem Doktoratsprojekt und zugleich als Assistentin am Lehrstuhl für Altes Testament.