«Das Miteinander wird immer wichtiger werden»

Wie gehen Migrantinnen und Migranten mit ihren auch schwierigen Migrationserfahrungen um? Im Gespräch mit Eva Baumann-Neuhaus erkundet die SKZ die
Bedeutung der Religion hierbei und fragt nach den Aufgaben der Migrationspastoral.

Dr. Eva Baumann-Neuhaus (Jg. 1964) studierte Ethnologie an der Universität Basel und provmovierte in Religionswissenschaft an der Universität Zürich. Sie ist seit 2010 wissenschaftliche Projektleiterin am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) in St. Gallen. (Bild: Barbara Ludwig, kath.ch)

 

SKZ: Sie haben sich in der Studie «Glaube in Migration»1 intensiv mit der Religion als möglicher Ressource für die Bewältigung der Migrationserfahrungen befasst. Was führte Sie zu dieser Aufgabenstellung?
Eva Baumann-Neuhaus: Das Thema Religion wird im Kontext von Migration in öffentlichen Diskussionen oft einseitig thematisiert. Vieles dreht sich um die Frage, ob Religion bei der Integration eine Hilfe oder ein Risiko darstellt. Dabei kommen religiöse Migrationsgemeinschaften immer wieder unter Verdacht, parallelgesellschaftliche Strukturen zu fördern. Ich suchte den Perspektivenwechsel weg von dieser problemorientierten Sichtweise und stellte die Subjekte der Migration in den Mittelpunkt meiner Forschung. Dabei interessierten mich folgende Fragen: Wie gehen Menschen mit ihren Migrationserfahrungen um? Welche Rolle spielt dabei die Religion? Der Mensch als Akteur seines Lebens und die Religion als potenzielle Ressource in diesem Leben rückten ins Blickfeld.  

Welche Erfahrungen während der Migration können zu Krisen im Leben von Migrierten führen?
Für die meisten Menschen sind Abschiede und Neuanfänge herausfordernd, auch wenn sie an die Hoffnung auf ein besseres Leben gekoppelt sind. Die Migration ist aber mit Erfahrungen verbunden, die in der Regel nicht vorhersehbar sind, auf die man sich nicht oder nur bedingt vorbereiten kann. Gerade die Trennung von Familie und Freunden macht vielen Migrantinnen und Migranten mehr zu schaffen als erwartet. Wenn berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten dazukommen, neue Freundschaften ausbleiben oder der Aufenthaltsstatus dauerhaft unsicher bleibt, kommt es zu einer tiefgreifenden Verunsicherung. Die Betroffenen fühlen sich einsam und entwickeln Ängste oder Gefühle der Ohnmacht, der Minderwertigkeit und des Ausgeschlossen-Seins. Der Alltag wird für sie zu einer Belastung. Die Folgen können psychische und physische Erkrankungen sein.  

Die Schweizer Soziologin und Ethnologin Amina Trevisan untersuchte in «Depression und Biografie»2 die gesellschaftlichen Faktoren, die die psychische Gesundheit von migrierten Frauen aus Lateinamerika mitbeeinflussten. Inwieweit sind Sie Krankheitserfahrungen bei Migrierten begegnet?
Im Rahmen der Studie befragte ich vor allem Personen der ersten Zuwanderungsgeneration. Einige von ihnen berichteten von emotionalem Stress verbunden mit verschiedenen belastenden Gefühlen und Ängsten. Wo die Belastung auch trotz grosser Anstrengungen anhielt, Kompensationen nicht möglich und ein Ende der Krise nicht absehbar waren, kam es da und dort zu Symptomen einer depressiven Verstimmung oder gar Erkrankung. Bei einer jungen Migrantin brachte die medikamentöse Behandlung eine vorübergehende Linderung, doch das Problem liess sich erst lösen, als sie die konkrete Möglichkeit sah, zu ihrer Familie zurückzukehren.

Wo sehen Sie hier dringende Aufgaben für die Gesellschaft und auch die kirchliche Diakonie?
Der Mensch ist ein soziales Wesen und angewiesen auf Beziehungen und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Mit anderen Worten, er lebt davon, wahrgenommen, anerkannt und einbezogen zu sein. Zugehörigkeit und Teilhabe sind identitätsrelevant und steigern die Lebenszufriedenheit, das Selbstvertrauen und den Selbstwert eines Menschen. Dieses Einbezogen-Sein, diese Teilhabe gilt es auf möglichst vielen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen und zu fördern. Manche Migrantinnen und Migranten gerade der ersten Zuwanderungsgeneration brauchen dabei Unterstützung, Begleitung und Ermutigung, sei es beim Spracherwerb, beim Einstieg in die Arbeitswelt, im Umgang mit Behörden usw. Der Staat, nichtstaatliche und kirchliche Organisationen und auch Privatpersonen leisten hier bereits viel und nützliche Arbeit. Sie schaffen Zugänge zu sozialen Netzwerken und Ressourcen und damit die Möglichkeit zur Teilhabe an Gesellschaft. Migrantinnen und Migranten sind aber nicht nur Bedürftige, die abhängig sind von den Zuwendungen anderer. Sie bringen auch viel Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen mit und möchten diese nutzen und einbringen. Dieses Potenzial gilt es zu sehen und zu anerkennen, denn Teilhabe bedingt auch das Anrecht und den Anspruch auf Beteiligung und Mitsprache. Gerade diesbezüglich muss im kirchlichen Umfeld noch ein Umdenken stattfinden, denn Partizipation wird hier oft als Teilnahme oder Mithilfe an Bestehendem verstanden. Es gilt, neue Möglichkeiten und Formen des Miteinanders zu entwickeln, voneinander zu lernen, das Potenzial aller zu sehen und zu nutzen.

Sie nennen in Ihrem Buch vier Strategietypen im Umgang mit Krisenerfahrungen im Kontext der Migration. Skizzieren Sie bitte diese kurz.
Die Wahrnehmung von Bruch- und Krisenerfahrungen ist von Mensch zu Mensch verschieden und ihre Verarbeitung hängt sowohl von individuellen Kompetenzen wie strukturellen Bedingungen ab. Im Verlaufe meiner Untersuchung kristallisierten sich bei den Befragten unterschiedliche Muster heraus, die auch eine unterschiedliche Beteiligung der Religion ersichtlich machten. Diese Muster oder Strategien zeigen Tendenzen auf, wie Menschen ihre Erfahrungen mit oder ohne Beitrag von Religion auf unterschiedliche Weise meistern. Es gibt Menschen, die davon überzeugt sind, dass Gott einen Plan hat für ihr Leben und für die Welt. Vor diesem Hintergrund bekommen alle Erfahrungen und Ereignisse einen Sinn, denn sie sind Teil dieses Planes. Diesen Sinn, die göttliche Führung im eigenen Leben, gilt es zu entdecken. Brucherfahrungen und Krisen werden so betrachtet zu Chancen für Neuanfänge, die Gott dem Menschen zumutet. Ein solcher Neuanfang markiert für viele auch die persönliche Bekehrungserfahrung. Sie hat die Perspektive auf das Leben grundsätzlich verändert, dem Leben einen neuen Sinn gegeben. Andere Menschen empfinden Brucherfahrungen und Krisen als Irritationen, die eine vertraute Ordnung durcheinanderbringen. Sie sehnen sich danach, diese Ordnung bzw. die verlorene Normalität wiederherzustellen. Personen, die in ihrer Heimat die Religion als selbstverständlichen Teil des privaten und gesellschaftlichen Lebens erlebt haben, leiden darunter, dass sie in der Schweiz für viele Menschen keine Bedeutung mehr hat oder nur noch ein Randdasein fristet. Ihr Alltagsleben nehmen sie darum als fragmentiert wahr. Um wenigstens ab und zu der Zerrissenheit zu entgehen, orientieren sie sich an der religiösen Gemeinschaft. Als Insel im Alltag bietet diese Schutz und ein Stück jener Normalität, an die sie anknüpfen können. Wieder andere Menschen betrachten Zeiten des Umbruchs und der Veränderung als persönliche Lernanlässe und sehen darin eine Möglichkeit zur Horizonterweiterung. Sie haben ein dynamisches Verständnis vom Leben und vom Glauben und sehen sich als lebenslang Lernende. Im Austausch mit anderen – in Beruf, Kirche, Freizeit – reflektieren sie das Eigene, hinterfragen Routinen und Traditionen. Sie legen das Leben und den Glauben in den gesellschaftlichen Kontexten, in denen sie es verbringen, immer wieder neu aus. Auch wenn dabei vieles nicht verhandelbar ist und manche Erfahrungen schmerzhaft sind, so sehen sie sich doch als Gestalterinnen und Gestalter ihres Daseins, selbst verantwortlich für ihr Leben. Schliesslich gibt es jene Menschen, die einen sehr pragmatischen Zugang zum Leben haben. Sie suchen nicht nach einem höheren Sinn und Zweck in allem und versuchen auch nicht, dem oft schwierigen Alltag zu entfliehen. Sie haben gelernt, Brucherfahrungen und Krisen als Teil des Lebens zu akzeptieren und halten sich an das Motto: «So ist das Leben. Mach das Beste daraus.» Meist orientieren sich diese Personen an konkreten Lebenszielen und versuchen die Hindernisse zu meistern. Der Glaube und die Glaubensgemeinschaft spielen für sie meist keine oder nur eine untergeordnete Rolle.

Wann ist der Glaube bzw. die Religion hinderlich in der Be- und Verarbeitung leidvoller Migrationserfahrungen?
Natürlich hat alles seine Kehrseite. Menschen, die hinter allem Gottes Führung suchen und für jede Entscheidung den Willen Gottes ergründen müssen, können leicht in Stress geraten. Erstens ist Dauerlegitimierung anstrengend und zweitens wird es schwierig, wenn Antworten ausbleiben, Sinn sich nicht finden lässt und problematische Lebenssituationen sich nicht auflösen. Wo sich eine Kluft zwischen Erlebtem und Geglaubtem auftut und die Zerrissenheit andauert,  machen sich mit der Zeit Gefühle der Hilflosigkeit und Verzweiflung oder sogar der Wut breit. Auch der Rückzug in die heile Welt der Gemeinschaft kann für die Betroffenen sowohl entlastend wie schädlich werden. Wenn ein Mensch seine Umwelt als antagonistisch zu dem Leben wahrnimmt, das er führen möchte, bleibt er auch in einer dauerhaften Zwickmühle zwischen zwei Welten, im Dilemma zwischen Ideal und Wirklichkeit. Auch diese Ambivalenz ist nicht förderlich, um Erfahrungen in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und nach vorne zu schauen. Schliesslich lässt sich auch fragen, ob jemand, der sein Leben und seinen Glauben je nach Lebenssituation immer wieder neu austariert und dauernd auf der Suche bleibt, gruppen- und gemeinschaftskompatibel ist. Verhält er sich mit seinen Authentizitätsansprüchen und seiner Flexibilität nicht letztlich immer irgendwie illoyal und bleibt schliesslich allein? Eine Frage, die gerade für Migrantinnen und Migranten in der Fremde eine zentrale Bedeutung bekommen kann.

Welche Relevanz und Funktion nehmen bei der Bewältigung der Kontingenzerfahrungen die Migrationsgemeinden ein?
Für viele Migrantinnen und Migranten wird die Glaubensgemeinschaft zu einem Ort der Beheimatung. Hier treffen sie auf Menschen, mit denen sie Sprache, Kultur und Glauben, aber auch ihre Migrationserfahrungen teilen können. Zudem kennen die Migrationsgemeinden die Bedürfnisse ihrer Mitglieder meist sehr gut und können sie gezielt unterstützen und begleiten, in praktischen, sozialen, emotionalen oder spirituellen Belangen. Ihre Pastoral ist migrationssensibel und ihre Theologie knüpft an biblische Narrative an, die für Menschen mit Migrationserfahrungen anschlussfähig sind. Sie bieten geschützte Kommunikations- und Begegnungsräume, in denen  Menschen ihre Erfahrungen mit anderen teilen und neu auslegen, aber auch voneinander lernen können. Das wirkt sich positiv aus auf das Selbstvertrauen der Betroffenen und ihr Vertrauen in die Umwelt.

Wo sehen Sie ausgehend von den Ergebnissen Ihrer Forschungsarbeit Entwicklungspotenzial und neue Aufgabenfelder für die Migrationspastoral?
Die Forschungsergebnisse helfen, die Nabelschau des einheimischen Christentums mit seinen doch tendenziell monokulturellen Gemeinschaften aufzubrechen. Sie schärfen das Bewusstsein für die Vielfältigkeit und Diversität des Christentums in der Schweiz, das massgeblich geprägt ist durch die Zuwanderung von Christinnen und Christen aus der ganzen Welt. Diese sind Teil unserer Gesellschaft und Teil unserer Kirchen. Die Kirchen sind gerade dabei, diese Tatsache zu realisieren und nach Wegen für ein vermehrtes Miteinander zu suchen. Sie werden ihre Rollen als Gastgeberinnen der Migrantinnen und Migranten überdenken müssen, denn echtes Miteinander bedingt Begegnung auf Augenhöhe und erschöpft sich nicht in der Möglichkeit dazuzugehören. Zugehörigkeit ohne Partizipation ist noch keine echte Teilhabe. Genau diese aber gilt es durch geeignete strukturelle Rahmenbedingungen zu fördern und im täglichen Miteinander einzuüben. Wo dieses Miteinander mit Menschen unterschiedlicher kultureller und theologischer Prägung, aber auch unterschiedlicher Glaubenspraxis gelingen soll, braucht es eine Kultur des Gemeinsam-voneinander-Lernens, auch wenn es ab und zu kracht.

Sie sprechen die kulturellen Unterschiede an. Sie führten Gespräche mit spanischsprechenden Migrantinnen und Migranten aus Spanien und aus Lateinamerika.  
Es ist mir aufgefallen, dass Menschen aus Lateinamerika gerne und offen über ihre Religiosität, ihre religiösen Gefühle und ihre Gotteserfahrungen sprechen, während Europäerinnen und Europäer, wohl aus kulturellen Gründen, hier eher zurückhaltend sind. Vielleicht zeigt sich hier aber auch ein Unterschied der Glaubensformen. Lateinamerika ist stark geprägt vom Pentekostalismus, der darum auch als enthusiastisches Christentum beschrieben wird, weil er eine erfahrungsorientierte und emotionale religiöse Praxis repräsentiert. Die individuelle Beziehung und Kommunikation zwischen Gott und Mensch stehen im Zentrum und die Gläubigen erzählen von aussergewöhnlichen und alltäglichen Gotteserfahrungen. Sie sind überzeugt, dass Gott durch den Heiligen Geist zu ihnen spricht und sie in ihrem Leben leitet. Von dieser Stimme wollen sie sich leiten lassen, denn sie ist die höchste Quelle der Erkenntnis, die letzte Autorität im Leben. Glaube und Alltagsleben gehören hier zusammen.

Die SBK und die RKZ veröffentlichten ein neues Gesamtkonzept «Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral». Wo verorten Sie darin die oben genannten Aufgaben?
Das Gesamtkonzept von SBK und RKZ greift viele der oben aufgeführten Überlegungen und Postulate auf und skizziert unterschiedliche Weg-Szenarien. Es ist wichtig, dass sich von allen Seiten Menschen auf diesen Weg begeben und miteinander unterwegs bleiben, auch wenn steinige Abschnitten und Durststrecken kommen, und Abschiede von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten da und dort unumgänglich sein werden. Es wird kein Ende des Weges geben, denn eine für Vielfalt und Diversität offene Kirche bleibt in Bewegung.3

Interview: Maria Hässig

 

1 Baumann-Neuhaus, Eva, Glaube in Migration. Religion als Ressource in Biografien christlicher Migrantinnen und Migranten, St. Gallen 2019.

2 Trevisan, Amira: Depression und Biografie. Krankheitserfahrungen migrierter Frauen in der Schweiz, Bielefeld 2020.

3 In der Reihe «Pastoralsoziologische Impulse» wird in den nächsten Wochen das Themenheft erscheinen: Baumann-Neuhaus, Eva, Migration und Glaube. Grundwissen für interkulturelle Pastoral, St. Gallen 2021.

 

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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