«Das Bistum Chur ist ein unvollendetes Konstrukt»

Nicht ganz zwei Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes der Kirchengeschichte des Bistums Chur legt Albert Fischer den zweiten Band zu den Jahren 1816 bis zur Gegenwart vor.

Dr. theol. Albert Fischer (Jg. 1964) ist Diözesanarchivar des Bistums Chur und seit 2009 Mitglied des Churer Domkapitels. Seit 2014 ist er Dozent für Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit und Churer Diözesangeschichte an der Theologischen Hochschule Chur. (Bild: rs)

 

SKZ: Der zweite Band hat eine enorme Bandbreite. Wie haben Sie den Inhalt festgelegt?
Albert Fischer: Im zweiten Band ging es nur noch um 200 Jahre. Somit war es nicht möglich, chronologisch vorzugehen; ich musste thematische wie sachbezogene Schwerpunkte setzen. Zunächst historische Begebenheiten, dann mussten gewisse Institutionen behandelt werden wie zum Beispiel das Domkapitel, die Klöster oder die Ausbildungsstätten. Mit der Zeit sah ich, was sonst noch wichtig ist. Im Bereich Kunst konnte ich nicht alle Pfarreien darstellen, so habe ich mich auf den Bischofssitz beschränkt.

Die Abtrennung der Schweizer Quart1 ist eine spannende Geschichte.
Es ist eine spannende, aber auch schwierige Geschichte. Nuntius Testaferrata hat vermutlich mit der plötzlichen Abtrennung der Schweizer Quart 1815 einen Fehlentscheid getroffen. Die Schweizer Quart hing irgendwo in der Luft und es stellte sich die Frage, wohin sie gehört. Zunächst koordinierte der Apostolische Vikar, Franz Bernhard Göldlin von Tiefenau, die zur Quart gehörenden Gebiete zusammen mit den örtlichen Kommissaren. Nach seinem Tod 1819 musste man irgendwie eine Lösung finden. Doch Rom wusste immer noch nicht, was tun. Das Bistum Konstanz existierte zu diesem Zeitpunkt ja noch, es wurde erst 1821 liquidiert. In der Amtszeit von Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein (1794–1833), der gut vernetzt war, wollte man aus der provisorischen eine definitive Zuordnung machen. Diese hat infolge der kantonalen Eigenheiten, die wir ja bis heute kennen, nicht stattgefunden. Nur der Kanton Schwyz hat mit dem Bistum Chur 1824 einen Bistumsvertrag geschlossen. Einen Vertrag, kein Konkordat! Dieser Vertrag wäre auch wieder leichter zu lösen.

Schwyz könnte sich also wieder vom Bistum Chur trennen?
Ja, der Grosse Rat des Kantons Schwyz hat es ja 1841 einmal probiert. Doch dies blieb ohne Wirkung. Die Zugehörigkeit der Kantone Uri (mit Ausnahme von Urseren), Ob- und Nidwalden, Zürich und Glarus ist seit 1819 nicht definitiv geregelt. Das heutige Bistum Chur ist somit ein unvollendetes Konstrukt und damit wohl einzigartig in der Kirchengeschichte. Bereits Bischof Georgius Schmid von Grüneck betitelte 1914 das Provisorium als «Anomalie und Quelle vieler Übelstände».

Wer müsste diese definitive Zuordnung vornehmen?
Das müsste Rom machen. Rom könnte die provisorische Lösung als definitiv festlegen, nur hätten da die Kantone etwas dagegen … Zuletzt hatte Bischof Amédée, wie schon andere Bischöfe vor ihm, versucht, die definitive Zuordnung in die Wege zu leiten. Vor seinem Amtsende waren die entsprechenden Arbeiten dem Ziel schon ziemlich nahe. Nach dem Amtswechsel war die Situation kirchenpolitisch wieder anders und man krebste zurück.

Interessant ist auch, dass bereits 1819 die Kantone Zürich und Glarus nichts mit dem Bischof von Chur zu tun haben wollten.
Als die Regelung gekommen ist, haben die beiden Kantone diese sofort abgelehnt. Das ist heute noch der Fall. In diesem Provisorium ist gerade das Gebiet von Zürich ein Vorzeigebeispiel geworden. Wie viele Pfarreien da entstanden sind, unglaublich. Katholisches Leben hat sich beispielhaft im Kanton Zürich ausgebreitet. Doch zu wem gehört Zürich? Bis und mit Bischof Wolfgang Haas war der Bischof von Chur «Administrator apostolicus dioecesis Constantiensis», obwohl es das Bistum Konstanz ja gar nicht mehr gab. Seit Bischof Amédée heisst es nur noch «Administrator apostolicus».

Ein aktuelles Thema ist das Bischofswahlrecht.
Von 1448 bis 1806 gab es rechtlich geregelt das freie Wahlrecht als Reichfürstbistum. Der Papst sagte dann nur noch ja oder nein zum gewählten Bischof. Ab 1806 bis 1948 gab es diese freien Wahlen eigentlich nicht mehr. Doch von 1806 bis 1833 musste zunächst nicht gewählt werden. Nach dem Tod des Bischofs Karl Rudolf gab es aufgrund der kirchenpolitischen Konflikte im Zusammenhang mit dem Doppelbistum Chur-St. Gallen keine Wahl und Rom ernannte dann einfach den nächsten Bischof. Bei den wenigen folgenden Bischofswahlen wählte das Domkapitel frei, obwohl es das Recht dazu eigentlich gar nicht mehr hatte. Rom hat diese Wahlentscheide geschluckt und auch bestätigt. 1941 war die letzte «freie» Wahl bei Bischof Caminada. Danach wollte Rom die Sache endgültig regeln und die Domherren mussten auf das sogenannte «freie Recht» verzichten. Dann wurde das Privileg festgelegt, so wie wir es heute kennen. Dieses gilt aber nur bei einer Vakanz. Man kann selbstverständlich einen Koadjutor einsetzen, wie wir es erlebt haben. Pius XII. hat das Privileg 1948 zugestanden und es war der gleiche Pius XII., der dieses Privileg 1957 hintergangen hat, indem er Vonderach als Koadjutor eingesetzt hat. Erst 1998 kam das Privileg bei der Wahl von Bischof Amédée zum ersten Mal zum Einsatz.

Was am Buch hat Ihnen Freude bereitet?
Ich stelle Dinge gerne visuell dar, zum Beispiel mit Tabellen, von denen einige im Buch abgedruckt sind. Was mich aber besonders gefreut hat, ist eine Sache im Zusammenhang mit dem Bischofswahlrecht. Das heute noch gültige Privileg wurde mit dem Dekret «Etsi salva» gewährt. Davon gab es im Archiv nur eine Kopie, das Original war nicht vorhanden. So konnten sich weder Bischof Amédée noch Bischof Vitus bei ihrer Wahl auf das Original berufen. Eines Nachmittags kam der technische Hausdienst und bat mich, mitzukommen. In der früheren Kanzlei waren in einem Kassenschrank Papierrollen gefunden worden. Und in einer davon war das Original des Dekrets! Auch das Original der Ernennungsbulle von Bischof Vonderach war da. Es gelang mir dann noch kurz vor der Drucklegung, im Buch die Bilder auszutauschen, und so ist im vorliegenden Band zum ersten Mal das Originaldekret von 1948 publiziert.

Sie äussern sich kritisch gegenüber Bischöfen. Führte dies zu Problemen?
Der Kirchenhistoriker Erwin Gatz  sagte einmal, die Geschichte eines Bistums müsse mit allen Höhen und Tiefen, mit den Leistungen und mit den Schwächen sachlich, aber kritisch und mit Anteilnahme dargestellt werden. Dies habe ich versucht. Im Buch habe ich explizit angemerkt, dass ich zu lebenden Bischöfen nur kurze Lebensbilder bringe und mich nicht zu kirchenpolitischen Fragen äussere. Ich habe an diversen Stellen zu einigen Vorgängen Anmerkungen gemacht, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Bischofswahlrecht als Wolfgang Haas «hineingerutscht» ist und Bischof Vonderach den jungen Wolfgang Haas fallengelassen hat. Dort hat die Misere angefangen: Wenn der eigene Bischof seinen gewünschten, ausdrücklich gewünschten Nachfolger nicht stützt. Bei der Bischofsweihe von Haas wurde seine Ernennungsbulle nicht wie üblich verlesen, da man diese angeblich noch nicht hatte.2 Dieses Vorgehen war nicht korrekt und muss von mir als Historiker im Buch erwähnt werden. Auch habe ich einen Satz zu Bischof Vitus und seiner Beziehung zur Piusgemeinschaft geschrieben. Es ist aber schwierig, über Aktuelles zu schreiben, da nicht alle Akten zugänglich sind, sodass man eine Situation erst im Nachhinein wirklich beurteilen kann.

Warum sollte man Ihre Kirchengeschichte lesen?
Ich hoffe, dass die jüngere Kirchengeschichte des Bistums Chur wieder an Aktualität gewinnt. Nicht nur jene zwischen 1990 und 2019, die von den Medien immer wieder in Erinnerung gerufen wird. Genauso wichtig ist die Geschichte der Zirkumskription und wie in diesem Ringen der katholische Aufbau hat stattfinden können. Und dass man erkennt, dass wir immer zusammen auf dem Weg sind und uns nicht zu fürchten brauchen vor der Geschichte, die wir selber schreiben. Die Kirchengeschichte wird jeden Tag ergänzt. Mein Buch ist bereits «veraltet», da inzwischen Bischof Amédée gestorben und Bischof Vitus nicht mehr im Amt ist.

Interview: Rosmarie Schärer

 

Das Bistum Chur, Band 1: «Das Bistum Chur. Band 1: Seine Geschichte von den Anfängen bis 1816». Von Albert Fischer. Konstanz 2017. ISBN 978-3-86764-807-3, CHF 65.90. www.narr.de (vgl. Beitrag in der SKZ 09/2018).

Das Bistum Chur, Band 2: «Das Bistum Chur. Band 2: Seine Geschichte von 1816/19 bis zur Gegenwart». Von Albert Fischer. Konstanz 2019. ISBN 978-3-86764-868-4, CHF 84.90. www.narr.de

1 Abtrennung der Schweizer Quart: Das Bistum Konstanz war in vier Quarten gegliedert. Die Schweizer Quart umfasste weite Teile der heutigen Schweiz: Teile der Kantone Aargau, Basel, Bern und Solothurn, fast vollständig die Kantone Glarus, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Thurgau, Zug, Zürich und die beiden Appenzell sowie die Kantone Ob- und Nidwalden, Schwyz und Uri (ohne Urseren). Mit Ausnahme von Basel-Stadt, Bern und Solothurn standen alle Gebiete ab 1819 unter der Administra- tion von Chur. Aargau, Luzern, Schaffhausen Thurgau und Zug gehören heute zum Bistum Basel. St. Gallen war zwischenzeitlich ein Doppelbistum mit Chur und ist seit 1847 ein eigenständiges Bistum. Die beiden Appenzell stehen seit 1866 unter der Administration des Bistums St. Gallen. Schwyz ist seit 1824 Teil des Bistums Chur. Glarus, Nid- und Obwalden, Uri (ohne Urseren) und Zürich stehen noch immer «nur» unter der Administration des Bistums Chur.

2 Auf Wunsch von Bischof Vonderach hatte Rom Wolfang Haas als Koadjutor mit Nachfolgerecht eingesetzt. Vonderach bestritt dies später öffentlich. In der Ernennungsbulle wurde die Tatsache aber bestätigt.

 

BONUS

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