Wird heute nach dem Sinn oder Nutzen von Religion gefragt, schwingt darin nicht selten etwas Abwertendes mit. Man fragt nach der Religion, wie man womöglich nach anderen, überflüssig gewordenen Dingen fragt. Brauchen wir die alte Teekanne noch? Das Festnetztelefon? Den kleinen Rest geriebenen Käse im Kühlschrank? Das Problem an solchen Parallelen: Religion ist kein Käse. Und dies nicht nur, weil Religion kein festes «Ding» ist, dessen man sich physisch entledigen könnte, wenn seine Nützlichkeit der Vergangenheit angehört. Womöglich ist die Religion, die man hat, niemals nützlich gewesen. Und womöglich ist Religion noch nicht einmal etwas, das man «hat», sondern eher etwas, das man ist.
In den vergangenen Jahrzehnten, in denen, vorangetrieben durch die Globalisierung, die Begegnung zwischen verschiedenen Religionen immer selbstverständlicher geworden ist, wurde neu darüber nachgedacht, was religiöse Identität eigentlich ausmacht. Eine mögliche Antwort, die aus dem interreligiösen Dialog stammt: Wir wachsen in eine religiöse Identität hinein, wie wir eine Sprache erlernen. Religion ist demnach ein System aus Überzeugungen, Zeichen und Riten, die mit der Zeit biografisch verinnerlicht werden – bis zu dem Punkt, an dem sie mitentscheidend für die Antwort auf die Frage der eigenen Identität sind. Analog zur Sprache, die wir sprechen, wäre die Religion dann der Rahmen, in dem Wirklichkeit verstanden und interpretiert und das eigene Leben gelebt wird. Religion strukturiert die Persönlichkeit. In diesem Sinne wäre es vielleicht richtiger, zu sagen, dass Religion ihre Angehörigen hat als umgekehrt.
Eine solche Analogie von Religion und Sprache verdeutlicht aber eine weitere Ebene des Charakters von Religion: Sie ist, so privat sie ist, eben nicht nur privat. Nicht zuletzt macht die weltpolitische Lage derzeit immer wieder deutlich, wie öffentlich Religion ist. Religiöse Symbole und Semantiken bestimmen und begleiten politische Ereignisse. Wie die Sprache ist die Religion also ein wesentlicher Teil des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Sie entfaltet soziale Bindungskräfte, sie motiviert moralisches Handeln und karitatives Engagement. Sie wird aber ebenso ideologisiert, sie kann als Vehikel kultureller Hegemonievorstellungen zur Spaltung und Abgrenzung dienen, sie kann Gewalt legitimieren.
Die Frage, ob wir Religion (noch) brauchen, steht im privaten und im öffentlichen Raum, sie hat eine rationale und eine affektive Dimension. Dies in jedem Antwortversuch auszutarieren, bleibt die grosse Herausforderung. Denn noch etwas legt der Vergleich von Religion und Sprache nahe: Beide bewähren sich in der gelebten Praxis durch Interpretations- und Übersetzungsleistungen zwischen «mir» und dem Anderen. Vielleicht ist die Frage gar nicht, ob wir Religion (noch) brauchen, sondern wie wir mit der Religion leben, die wir haben – bzw. mit der Religion, die uns hat.
Franca Spies*