Ausstieg aus der Bequemlichkeit

Die dynamische Dimension von Mission hat in jeder theologischen Systematik des Christentums einen zentralen Platz. Wer aktuelle Veröffentlichungen zur Missionstheologie liest, kann dort interessante Anregungen finden und sich inspirieren lassen. In den Publikationen geht es um interkulturelle Theologie und Inkulturation, um Weltkirche und globale Migration – und damit geht es um Fragen am Puls der Zeit. Stellvertretend seien hier die Schriften des Instituts für Weltkirche und Mission (IWM) in Frankfurt (www.iwm.sankt-georgen.de) und die "Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft" (ZMR) genannt. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff "Mission" allerdings seit Jahrzehnten peinlichst vermieden. Offensichtlich ist er so negativ besetzt, dass differenzierendes Weiterdenken nahezu unmöglich wird. Die Ablehnung erfolgt geradezu reflexartig. Zu stark wirken die Bilder vom westlichen Missionar mit Tropenhelm und seinem schon sprichwörtlichen "Missionseifer" nach oder vom "Nickneger ", der seinerzeit in Kirchen die Spende mit einem braven Kopfnicken quittierte. Die vielen negativen Erfahrungen hinter den Bildern gehören tatsächlich zur Geschichte der christlichen Mission in den vergangenen Jahrhunderten. Wir müssen als Christen daraus lernen, und wir haben dies auch schon vielfach getan. Tragisch wäre, wenn dieses historische Erbe heute den Blick auf die weitere Entwicklung der kirchlichen Lehre und auf die theologische Reflexion zum Thema Mission seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil versperren würde. Dem Konzilsdokument "Nostra aetate" (Lateinisch: in unserer Zeit) zum Beispiel ist sicher noch mehr Wirkung zu wünschen.

Wo liegt das Blockierende? Wie kann eine veränderte Sichtweise gefunden werden?

In einer ersten Diagnose könnte man vermuten, dass der sogenannte Missionsbefehl im Markusevangelium in den Köpfen mutiert sei zu einem "Taufbefehl ". Wörtlich heisst es: "Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Mk 16,15–16). Wenn diese gedankliche Engführung auf die Taufe tatsächlich wirkt, ist nachvollziehbar, dass die im Text an erster Stelle stehende Aufforderung "Geht hinaus" nicht mehr die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhält. In diese Richtung weisen auch verschiedene Aussagen von Papst Franziskus. So wird im Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" (Lateinisch: die Freude über das Evangelium) im ersten Kapitel "Die missionarische Umgestaltung der Kirche" das Hinausgehen aus der eigenen Bequemlichkeit angeführt (Evangelii gaudium 20). Bei der Suche nach einem besseren Verständnis der Aufforderung, hinauszugehen, ist die Orientierung am Zweiten Vatikanischen Konzil angebracht. Gustavo Gutiérrez sieht die "alte Geschichte vom Samariter" als zentrale Metapher dieses Konzils.1 Der barmherzige Samariter ist der Prototyp eines Menschen, der für einen mitmenschlichen Akt über seine eigenen Religionsvorstellungen hinausgeht und dem unter die Räuber gefallenen Opfer beisteht. Gutiérrez zeigt auf, wie sich diese Metapher des Konzils weiter auswirkt im Rahmen der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik: "Uns zu Nächsten machen, zu Nächsten werden" – das heisst, die Initiative zu ergreifen, uns dem anderen zu nähern, wie wir im Gleichnis gesehen haben. Das aber heisst, "als barmherzige Samariter die Not der Armen und der Leidenden sehen sowie gerechte Strukturen schaffen, ohne die eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft nicht möglich ist"2. Unter den Konzilserklärungen bildet Nostra aetate in herausragender Weise die Grundlage für ein Verständnis des "Hinausgehens". In dieser Erklärung änderte das Konzil den Blick der Kirche auf die andern Religionen radikal – und damit auch ihr Selbstbild. Statt sich vom einzelnen Nichtchristen abzugrenzen, äussert sich die Kirche in einem lehramtlichen Dokument über die nichtchristlichen Religionen insgesamt und erkennt an, was in diesen "wahr und heilig" ist. Letztlich öffnet sich die Kirche endlich zur Interreligiosität. Sie räumt ein, dass sie nicht nur aus der eigenen Offenbarungsquelle lebt, sondern sich auch im Spiegel der anderen Religionen besser verstehen lernt. Offensichtlich bereichert diese positive Hinwendung zu den anderen Religionen das eigene Selbstverständnis.

Zweifellos ist die Bereitschaft zum Dialog für Christen nicht einfach eine Notwendigkeit der globalen Kommunikationsgesellschaft, sondern sie erwächst aus Gott selbst: Gott hat sich zuerst im Wort (Griechisch: dia logos) offenbart und durch die Begegnung mit Jesus einen Dialog eröffnet, der in der Nachfolge Christi weitergeführt sein will. Letztlich gründet der Dialog im Liebesgespräch des dreieinen Gottes, der für diese Welt Heil will. Dieses "Hinausgehen ", diese Hinwendung zum anderen und der sich daraus ergebende Austausch mit dem Fremden, bringen wiederum den Begriff der Mission und des interreligiösen Dialogs in einen kreativen Zusammenhang. 3 Eine solche Sichtweise eröffnet sicher noch weitere, inspirierende Einsichten. Zum Weiterdenken darüber, was ein "Geht hinaus" in unserem Alltag bedeuten kann, lädt diese überraschend nüchterne Definition ein: "Mission ist die Theorie und Praxis kirchlicher Fremdbegegnung."4 Im Sinne dieser Definition ist Mission schlicht eine Gegebenheit. Die konkrete Gemeinschaft der Kirche, in welchem kulturellen Umfeld auch immer, erfährt sich als Teil einer Welt, in der sie unausweichlich Fremden und dem ihr Fremden begegnet. Für diese Erfahrung muss bekanntlich in unserer Zeit niemand mehr in die Fremde gehen, denn wir begegnen dem kulturell und religiös Unvertrauten mitten unter uns. Damit dies nicht zu Konflikten führt, müssen wir allerdings aus uns selbst herausgehen.

Wenn anderssprachige Gemeinden ungewohnte Akzente in den Gottesdiensten setzen und Pfarreizentren in der Schweiz nutzen, so irritiert das nicht selten unsere Glaubensgewohnheiten. Weitere Formen der kirchlichen Fremdbegegnungen entstehen durch andere, uns fremde Religionen, die durch Migranten und Flüchtlinge in unsere Lebenswirklichkeit hineinkommen. Ebenso verdienen Begegnungen mit Menschen Aufmerksamkeit, denen wir als Kirche fremd geworden sind. Diese Praxisfelder provozieren uns, aus den gewohnten Vorstellungen herauszutreten. Sie sind konkrete Bewährungsfelder für unsere Glaubenstheorie.

 

 

1 Gustavo Gutiérrez, Die Spiritualität des Konzilsereignisses in: Die grossen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils, ihre Bedeutung für heute, herausgegeben von Mariano Delgado und Michael Sievernich, Freiburg 2013, 405–421.

2 Ebd. 418. Gutiérrez zitiert in diesem Abschnitt Aparecida 2007. Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Stimmen der Weltkirche 41), Bonn 2007, S. 291 (Nr. 537). Es handelt sich um ein Zitat aus der Eröffnungsansprache von Papst Benedikt XVI. zu Beginn der Bischofsversammlung Am 13. 5. 2007, in: ebd., S. 332.

3 Die emeritierte Basler Missionswissenschaftlerin Christine Lienemann- Perrin entfaltet diesen Zusammenhang in: Mission und interreligiöser Dialog, Ökumenische Studienhefte 11, Göttingen 1999.

4 Die Definition verdanke ich Benedict Schubert. Er schreibt: "Die Definition habe ich mir einmal nach einem Gespräch mit Christine Lienemann notiert, aber nie in einer ihrer Publikationen gefunden. Entfaltet wird die Grundidee in: Christine Lienemann-Perrin. Mission und interreligiöser Dialog, Ökumenische Studienhefte 11, Göttingen 1999." http://www.refbejuso.ch/fileadmin/user_upload/OeME-Migration/Mission_21/OM_PUB_Referat-Schubert_20150207.pdf

Toni Kurmann

Mag. Theol. Toni Kurmann SJ ist seit 2004 Missionsprokurator der Jesuitenmission Schweiz. Der Theologe und Soziologe Toni Kurmann steht in engem Kontakt mit den Projektpartnern der Jesuitenmission in aller Welt.