Auf einen anderen Lebensstil setzen

Nähert man sich der neuen Umwelt-Enzyklika von Papst Franziskus über die Kommentare der beiden grossen meinungsbildenden deutschsprachigen Zeitungen an, ist die Vorfreude zum Studium des umfangreichen OEuvres1 rasch dahin: Hält sich die "Neue Zürcher Zeitung" bei der Bewertung des Textes trotz unverkennbarer Reserviertheit vornehm zurück,2 kommt die Kritik bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"3 einem Verriss gleich. Zwar streut der Journalist Daniel Deckers einige freundliche Bemerkungen in seinen Kommentar ein, aber das Urteil über die Enzyklika ist doch ziemlich deftig: "Moralinsaures Gebräu", "schlichter und schriller Ton", "abgestandene Polemik", "ungeniessbares ökologisches Manifest".

Ökologie umfasst unsere ganze Kultur

Eine solche Vehemenz des Urteils stachelt andererseits aber auch zum Lesen an: Man möchte sich über den Inhalt selbst ein Urteil bilden und prüfen, ob eine solche Kritik gerechtfertigt sei. Allerdings ist die Enzyklika keine "Lektüre to go"; will man sie von Anfang bis Ende durchlesen, braucht es Zeit. Die werden sich leider nicht allzu viele Menschen nehmen, was durchaus schade ist. Denn die Enzyklika zeichnet in 246 Nummern ein Monumentalgemälde, das weit über eine Skizze des Natur- und Umweltschutzes hinausgeht. Darin liegt ihre eigentliche Faszination: Sie integriert die ökologische Thematik in ein umfassendes Menschen-, Welt-, Schöpfungsund Gottesverständnis. Sie beginnt zwar im ersten Kapitel mit einer detaillierten Auflistung aktueller Umweltprobleme, doch begnügt sie sich nicht mit dem Wiederholen bereits bekannter Umweltforderungen. Ihre Analyse geht tiefer: Sie wendet sich im zweiten und dritten Kapitel dem einzelnen Menschen und seiner Lebensführung zu, sie bezieht gesellschaftliche Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft und Technologie in ihre Überlegungen ein und verweist auf den Zusammenhang von Natur- und Umweltkonzeptionen mit grundlegenden religiös-philosophischen Fragestellungen. Für Franziskus gibt es nicht eine solitäre Umweltökologie, sondern – wie er im vierten Kapitel entfaltet – auch eine Human-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturökologie sowie eine Ökologie des Alltagslebens. "Alles ist miteinander verbunden."4 Franziskus wählt für seinen Ansatz einer ganzheitlichen Ökologie den Begriff "das gemeinsame Haus".5 Gerade das griechische Wort für "Haus" – "oikos" – ist als Wortstamm in "Ökologie" und "Ökonomie" enthalten und erinnert so an den gemeinsamen Ursprung dieser manchmal so fern voneinander stehenden Lebensbereiche.

Ökologie ist auch eine religiöse Angelegenheit

Muss sich ein religiöser Führer, muss sich der Papst überhaupt zu einem solch "profanen" Thema wie der Ökologie äussern? Der Journalist Alexander Kissler kritisiert in seinem Beitrag für das politische Magazin "Cicero", dass die Kirchen, gerade auch im Hinblick auf den Umweltschutz, nur dem Zeitgeist nachliefen und dasselbe wie Politiker sagen: "Wenn auch die Kirchen so reden, liefern sie der Welt nicht, was die Welt nicht zu geben vermag, sondern nur, was die Welt schon ist. Kirchen sind dann keine Verkünder mehr, sondern verstärken das allgemeine weltanschauliche Grundrauschen."6 Mit seiner ganzheitlichen Mensch, Gesellschaft, Schöpfung und Schöpfer zusammenschauenden Konzeption beantwortet Papst Franziskus die durchaus berechtigte Frage nach dem Proprium einer christlichen Umweltethik. Er stellt in seiner Enzyklika Fragen und gibt auch Antworten, die wohl kein "profaner" Meinungsführer stellen und so beantworten würde: Welches Verständnis haben wir von Natur und Umwelt, wie setzen wir es in Beziehung mit unserem Verständnis von Mensch und Gesellschaft? Was verändert sich an diesem Verständnis, wenn wir in einem christlichen Sinne von Schöpfung, Inkarnation und eschatologischer Vollendung ausgehen? Wie können wir Religionen an sich und eine christliche Spiritualität im Besonderen als Ressourcen für den gesellschaftlichen ökologischen Diskurs und für eine ökologieverträglichere Lebensweise nutzen?

Grundhaltung des Papstes

Diese Fragen führen uns in das Zentrum der ökologischen Grundhaltung von Papst Franziskus. Sie lässt sich in der Enzyklika vielleicht am prägnantesten in Abschnitt 210 finden. Dort definiert er das "ökologische Gleichgewicht" als Summe von vier anderen Gleichgewichten: dem inneren Gleichgewicht mit sich selbst, dem solidarischen Gleichgewicht mit den anderen, dem natürlichen Gleichgewicht mit allen Lebewesen und dem geistlichen Gleichgewicht mit Gott.7 Diese Grundhaltung wird im zweiten Kapitel seiner Enzyklika schöpfungstheologisch entfaltet. Gerade im Hinblick auf das Proprium einer christlichen Umweltethik ist der Abschnitt 76 von Bedeutung, wo Papst Franziskus auf den grundlegenden Unterschied zwischen den Begriffen "Natur" und "Schöpfung" hinweist. Geht man von "Schöpfung" analysiert, versteht und handhabt", dann ist sie Bestandteil eines "Plans der Liebe Gottes", "wo jedes Geschöpf einen Wert und eine Bedeutung besitzt". In einer solchen als Geschenk verstandenen Schöpfung leben nun alle Kreaturen in Beziehung zueinander,8 ja in einer "allumfassenden Gemeinschaft".9

Dem Menschen kommt nach Franziskus die Verantwortung zu, "seine eigenen Fähigkeiten auszubauen, um die Welt zu schützen und ihre Potenzialitäten zu entfalten".10 Er lehnt sowohl einen "falsch verstandenen", d. h. schrankenlosen Anthropozentrismus als auch einen Biozentrismus, der den Menschen auf die selbe Stufe mit den anderen Lebewesen stellt,11 ab. "Jeder von uns besitzt in sich eine persönliche Identität, die fähig ist, mit den anderen und mit Gott selbst in Dialog zu treten. Die Fähigkeit zu Reflexion, Beweisführung, Kreativität, Interpretation und künstlerischem Schaffen sowie andere, völlig neue Fähigkeiten zeigen eine Besonderheit, die den physischen und biologischen Bereich überschreitet. Die qualitative Neuheit, die darin besteht, dass im materiellen Universum ein Wesen auftaucht, das Person ist, setzt ein direktes Handeln Gottes voraus, einen besonderen Ruf ins Leben und in die Beziehung eines Du zu einem anderen Du. Von den biblischen Erzählungen her betrachten wir den Menschen als ein Subjekt, das niemals in die Kategorie des Objektes herabgesetzt werden kann."12 Franziskus’ gemässigter Anthropozentrismus schliesst eine "willkürliche Herrschaft des Menschen" über andere Lebewesen aus, genauso wie ein Verständnis von Natur, sie einzig "als Gegenstand des Profits und der Interessen" zu betrachten.13 Immer wieder lässt Franziskus in der Enzyklika seine ausgeprägt ästhetische, poetische Beziehung zur Natur erkennen, die im Titel "Laudato si’", in Anspielung auf den Sonnengesang des hl. Franziskus von Assisi, ihren beredten Ausdruck findet. Vielleicht liefert sie auch eine Erklärung für seine akzentuierte Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt, auf die ich weiter unten noch näher eingehen werde.

Integration der verschiedenen Beziehungen

Charakteristisch für Franziskus’ Ökologieverständnis ist die Integration der zwischenmenschlichen und der Mensch-Gott-Beziehungen in den ökologischen Themenkomplex. Die Sorge um die Schöpfung und die Geschöpfe lässt sich nach Franziskus nicht aufteilen. Man kann nicht für Tier- und Umweltschutz eintreten und gegen den Schutz des menschlichen Lebens agieren und umgekehrt. Das betrifft sowohl den Schutz des menschlichen Lebens und seiner Würde am Anfang und am Ende als auch die Sorge für den Zusammenhalt der Gesellschaft, für arme und entrechtete Menschen.14 Und schliesslich weist Franziskus darauf hin, dass der ökologische Diskurs und die daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Veränderungen auch einer religiösen und spirituellen Dimension bedürfen. Die "engen methodologischen Grenzen" der empirischen Wissenschaften können "das ästhetische Empfinden, die Poesie und sogar die Fähigkeit der Vernunft, den Sinn und den Zweck der Dinge zu erkennen", nicht in Betracht ziehen.15 Im Hinblick auf ein "Bewusstsein des gemeinsamen Ursprungs, einer wechselseitigen Zugehörigkeit und einer von allen geteilten Zukunft" kann der (christliche) Glaube einen wichtigen Beitrag leisten. Ein solches Welt-Verständnis erachtet Franziskus als notwendig für die "Entwicklung neuer Überzeugungen, Verhaltensweisen und Lebensformen".16

Kritik an gegenwärtigen Wirtschaftsformen und Lebensstilen

Die profanen Medien interessieren sich in der Regel hauptsächlich für die päpstliche Analyse des gegenwärtigen Zustands von Umwelt und Gesellschaft. Vor allem seine Aussagen zu Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus und zum globalen Nord-Süd-Verhältnis werden einzeln herausgepickt und je nach der politischen Einstellung des Kommentators freudig begrüsst oder vehement abgelehnt. Der Kontext, in dem die zitierten Sätze stehen, wird meist "grosszügig" übersehen. Dabei ist für das Verständnis einzelner Passagen gerade die vorhin skizzierte ökologische Grundhaltung des Papstes wichtig.

Im ersten Kapitel erfolgt gemäss seiner synoptischen Problemwahrnehmung nicht nur eine ziemlich detaillierte Auflistung heutiger Umweltprobleme (Verschmutzung von Boden, Luft und Wasser, Klimaveränderung,17 Energie- und Rohstofffrage, Zugang zu sauberem Trinkwasser, Abholzung der Wälder, Landwirtschaft, Reduktion der Biodiversität, Gletscherschmelze, Anstieg des Meeresspiegels), sondern auch eine Hinwendung zu sozialen Problemen (sinkende Lebensqualität in den Städten, vor allem in den Quartieren ärmerer Bevölkerungsschichten, Exklusion, Verteilungsgerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut, Wegwerfgesellschaft, Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd) und zu Problemen der individuellen Lebensführung ("geistige Umweltverschmutzung" durch "zerstreuenden Lärm der Informationen",18 Konsumismus, Oberflächlichkeit, Vereinsamung). Das Fazit, das Franziskus bezüglich der Verantwortung des Menschen zieht, ist ziemlich ernüchternd: "Niemals haben wir unser gemeinsames Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in den letzten beiden Jahrhunderten."19 Die Zeitangabe lässt vermuten, dass sich seine Kritik auf das Zeitalter der (Post20)Industrialisierung bezieht, das durch die Verbindung von Wissenschaft, Technik und Kapital eine ganz neue Qualität der Eingriffe in die Natur möglich gemacht hat und macht.

Ursachen der Negativentwicklung

Den Ursachen dieser von ihm bilanzierten negativen Entwicklung geht der Papst im dritten Kapitel nach. In einem "fehlgeleiteten Anthropozentrismus" und der "Kultur des Relativismus" erachtet Franziskus den Wurzelgrund der ökologischen Krise. Seine Gedankengänge erinnern an Erich Fromms "Haben und Sein": Der Mensch will die Welt für sich in Besitz nehmen. Die Beziehungen zur Natur und zu den Mitmenschen werden einem Nutzenkalkül unterworfen, versachlicht im eigentlichen Sinne des Wortes, und damit relativ. Denn die Natur und die Mitmenschen haben keinen Eigenwert mehr; ihnen kommt nur Bedeutung zu, insofern und so lange sie von Nutzen sind für den jeweiligen Menschen. "Wenn der Mensch sich selbst ins Zentrum stellt, gibt er am Ende seinen durch die Umstände bedingten Vorteilen absoluten Vorrang, und alles Übrige wird relativ."21

In einer solchen Kultur degenerieren Technologie und Marktwirtschaft zu einem "technokratischen" bzw. "techno-ökonomischen Paradigma". Sie werden verabsolutiert und zu einem Herrschaftsinstrument bezüglich der Natur, der Mitmenschen und der schwächeren Teile der Gesellschaft. Die Fortschrittsgläubigkeit, der "vergötterte Markt", die "Idee eines unendlichen und grenzenlosen Wachstums" entspringen einem solchen Denken. "Es kam schon immer vor, dass der Mensch in die Natur eingegriffen hat. Aber für lange Zeit lag das Merkmal darin, zu begleiten (…). Es ging darum, zu empfangen, was die Wirklichkeit der Natur von sich aus anbietet, gleichsam die Hand reichend. Jetzt hingegen ist das Interesse darauf ausgerichtet, alles, was irgend möglich ist, aus den Dingen zu gewinnen durch den Eingriff des Menschen …"22

Ein umfassender Kurswechsel ist notwendig

Für Franziskus lässt sich eine Veränderung der Situation nicht mit politischen Programmen oder neuen Gesetzen herbeiführen. "Denn wenn die Kultur verfällt und man keine objektive Wahrheit oder keine allgemeingültigen Prinzipien mehr anerkennt, werden die Gesetze nur als willkürlicher Zwang und als Hindernisse angesehen, die es zu umgehen gilt."23 Er spricht sich deshalb im sechsten Kapitel für einen umfassenden "Kurswechsel"24 aus, der beim einzelnen Menschen und dessen Lebensstil beginnen muss. Insbesondere erinnert er dabei an das "geistliche" und "innere" Gleichgewicht "im Menschen, die Voraussetzung sind für das "natürliche" und "solidarische Gleichgewicht". "Das Verschwinden der Demut in einem Menschen, der masslos begeistert ist von der Möglichkeit, alles ohne jede Einschränkung zu beherrschen, kann letztlich der Gesellschaft und der Umwelt nur schaden. Es ist nicht leicht, diese gesunde Demut und eine zufriedene Genügsamkeit zu entwickeln, wenn wir eigenständig werden, wenn wir Gott aus unserem Leben ausschliessen und unser Ich seinen Platz einnimmt, wenn wir glauben, es sei unserer Subjektivität anheimgestellt, zu bestimmen, was gut und was böse ist."25

Franziskus traut dem Menschen jedoch eine ehrliche Selbsteinschätzung, die Erkenntnis des eigenen Überdrusses und die Fähigkeit, einen neuen Weg zur "wahren Freiheit" einzuschlagen, zu. "Es gibt keine Systeme, die die Offenheit für das Gute, die Wahrheit und die Schönheit vollkommen zunichte machen und die Fähigkeit aufheben, dem zu entsprechen."26 Insbesondere hebt Franziskus die Familie und die Schule als Orte der ganzheitlichen Erziehung hervor, die eine "Kultur des Zusammenlebens und der Achtung gegenüber unserer Umgebung"27 aufbauen können. So sehr Franziskus die Notwendigkeit eines persönlichen Kurswechsels betont, steht für ihn ausser Frage, dass es darüber hinaus auch eine "gemeinschaftliche Umkehr"28 braucht.

Die christliche Spiritualität müsse für diesen Kurswechsel neu entdeckt werden. Sie beinhalte nicht nur "ein Erkennen der Welt als ein von der Liebe des himmlischen Vaters erhaltenes Geschenk",29 sondern führe dem Menschen auch ein "anderes Verständnis von Lebensqualität" vor Augen und ermutige zu einem "kontemplativen Lebensstil", zur "Einfachheit" und "Genügsamkeit".30 "Man kann wenig benötigen und erfüllt leben, vor allem, wenn man fähig ist, das Gefallen an anderen Dingen zu entwickeln und in den geschwisterlichen Begegnungen, im Dienen, in der Entfaltung der eigenen Charismen, in Musik und Kunst, im Kontakt mit der Natur und im Gebet Erfüllung zu finden."31

Ein solcher Lebensstil überwindet den in der Enzyklika wiederholt kritisierten "zwanghaften Konsumismus" im Zuge des "techno-ökonomischen Paradigmas". Er verstärkt erstens das "innere Gleichgewicht" im Menschen, zweitens kann er "einen heilsamen Druck auf diejenigen ausüben, die politische, wirtschaftliche und soziale Macht besitzen".32 Hier übernimmt Franziskus Überlegungen des konsumethischen "Consumer Citizen"-Ansatzes, der durch strategische Kauf- bzw. Nicht-Kauf-Entscheidungen der Konsumenten beim Hersteller sozial- und umweltverträglichere Produktionsverfahren und Produkte erzielen möchte. Und drittens wird ein solcher kontemplativer bzw. genügsamer Lebensstil zu einem materiell deutlich weniger aufwendigen Konsumverhalten führen. Macht ein solcher Vorschlag Schule, dürfte das zu einer Verlangsamung der ökonomischen Geschwindigkeit (auch hinsichtlich der Novitäten), des Wachstums und damit auch des Natur- und Ressourcenverbrauchs führen. Das ist für Franziskus durchaus erwünscht, der sich selbst eine Rezession in den Ländern der nördlichen Welthalbkugel zu Gunsten der südlichen Länder vorstellen kann.

Stärken und Fragezeichen

Kehren wir zum Anfang unserer Überlegungen zurück, zu den Medienkommentaren über die Enzyklika bzw. über das kirchliche Engagement in Sachen Ökologie. Was ist nun unser Eindruck von dieser Enzyklika?

Als grosse Leistung dieser Enzyklika erachte ich die Herausarbeitung der natürlichen, gesellschaftlichen, persönlichen und geistlichen Dimensionen der ökologischen Fragestellung und ihre Zusammenschau in einem ganzheitlichen Ansatz. Das päpstliche Rundschreiben ist für mich deshalb nicht "nur" eine Umwelt-Enzyklika, wie es im Untertitel der Herder- Verlag-Ausgabe steht, sondern zugleich auch eine Sozialenzyklika. Sie bietet inhaltlich mehr als bloss eine Wiederholung dessen, was Politiker, Parteien oder Umweltgruppierungen zum Thema Ökologie und Umweltschutz sagen. Die Enzyklika erfüllt deshalb durchaus die obige Anregung von Alexander Kissler, etwas zu liefern, was die Welt nicht zu geben vermag. Sie öffnet die ökologische Fragestellung auf Transzendenz hin und fordert für die "ökologische (eigentlich ist es eine "kulturelle) Wende" eine persönliche Spiritualität ein, weil ohne sie wichtige Motivatoren für eine solche Wende wie das Ergriffensein von der Natur oder das Staunen und Erfassen von Schönheit, die Achtung vor dem Menschen ausfallen. Franziskus traut dieser Kraft mehr zu als staatlicher Legiferierung.

Gesellschaftspolitisch beachtenswert ist auch die wiederholt in der Enzyklika angemahnte Verbindung von Naturschutz und Menschenschutz. Franziskus erteilt jenen gesellschaftlichen Kräften eine klare Absage, die sich zwar um das Wohl von Tieren und Pflanzen kümmern, aber sich gegen den Schutz des werdenden menschlichen Lebens, behinderter oder alter Menschen aussprechen.

Als Schwachpunkte der Enzyklika werte ich hingegen ihr Kulturverständnis und ihren Kulturpessimismus bezüglich der (post-)industriellen Gesellschaft. Letzterer springt einem in der Enzyklika verschiedentlich ins Auge. Leider knüpft hier Franziskus nicht an die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, "Gaudium et spes", an, die bei aller Kritik doch versucht hat, der Moderne in ihren gelungenen und weniger gelungenen Entwicklungen gerecht zu werden. Insbesondere auf Schweizer Leserinnen und Leser dürfte die im ersten Kapitel vorgetragene Kritik Franziskus’ am Umweltverhalten der Menschen, an der Verschmutzung, am Abfall und der Wegwerfkultur als zu pauschal und schwarz-weiss gezeichnet vorkommen. In unserem Land und zumindest im Norden Europas lässt sich doch bei allem ökologisch Defizitären seit den 1970er-Jahren ein erwachendes und heute sogar ausgeprägtes Umweltbewusstsein konstatieren. Auf Mülltrennung, Recycling, sauberes Trinkwasser usw. wird grosser Wert gelegt. Solchen positiven Entwicklungen hätte Franziskus in seiner Enzyklika durchaus mehr Raum geben dürfen. Dann hätte er womöglich sein Urteil, der Mensch habe seine Verantwortung niemals so schlecht wahrgenommen wie heute,33 anders formuliert.

Diese negative Einschätzung kommt möglicherweise auch daher, dass er die Gegenwartskultur der hoch entwickelten Länder – insbesondere ihre wichtigen Säulen Technologie, Wirtschaft und Konsum – überwiegend negativ wahrnimmt. Es fehlt zwar nicht ein würdigender Hinweis auf die gemeinwohlfördernden technischen Errungenschaften,34 doch wird die Technologie von ihm allzu sehr aus der Perspektive eines Herrschaftsinstruments zur Rationalisierung (im Max-Weberschen Sinne) und damit sowohl zur Entfremdung der Natur als auch des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft gesehen. Das zeigt sich am Beispiel des Konsums, wo Franziskus Kritiken des letzten Jahrhunderts bezüglich der raschen Produktneuerungen, der Bedürfnisschaffung und des überbordenden Konsums übernimmt und für einen einfachen und genügsamen Konsumstil plädiert. Was bzw. wen er aber nicht in Betracht zieht, ist der schöpferische Mensch, und zwar sowohl als Hersteller neuer Entwürfe und Lösungen, neuer und verfeinerter Güter und Dienstleistungen, als auch als Konsument, der Konsumieren als Teil des individuellen Lebensentwurfes versteht und nicht als blosses "Abfüttern" elementarer Bedürfnisse.35 Eine klug gestaltete, sich weitende Lebenshaltung muss keineswegs zum Konsumismus führen. Von einzelnen, auf freiwilliger Basis erfolgten Entwürfen des "einfachen Lebens" abgesehen wird sich eine freie Gesellschaft nicht auf die Befriedigung existenzieller Bedürfnisse und auf eine Simplifizierung und Standardisierung der Produktion beschränken lassen. Von daher erscheint mir der Weg zu einer ökologieverträglicheren Kultur nicht in weniger Wachstum und Entschleunigung zu liegen, sondern eben doch in besserer, sprich ökologieverträglicherer Technologie.

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1 Die Enzyklika umfasst 246 durchnummerierte Abschnitte (oder 248 Seiten in der Ausgabe des Herder-Verlages). Sie ist am Schluss dieses Artikels aufgeschaltet.

2 http://www.nzz.ch/international/europa/der-papst-kaempft-fuer-den-klimaschutz-1.18563608; http://www.nzz.ch/feuilleton/mutter-erdes-seufzen-1.18565178 (beide aufgerufen: 24.7.2015).

3 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/kommentar-zur-papst-enzyklika-ein-oeko-manifest-13654517.html (aufgerufen: 24.7.2015).

4 Nr. 117.

5 So heisst der Untertitel der Enzyklika: «Über die Sorge für das gemeinsame Haus».

6 Alexander Kissler, Das ist die Quittung. Mitglieder­schwund der Kirchen, in: Cicero. Das politische Maga­zin, 21.7.2015 (http://www.cicero.de/salon/mitglie­derschwund-der-kirchen-das-ist-die-quittung/59593, aufgerufen: 25.7.2015).

7 Ähnlich auch Nr. 10, in dem er auf das Vorbild des hl. Franziskus Bezug nimmt: «Er war ein Mystiker und Pilger, der (…) in einer wunderbaren Harmonie mit Gott, mit den anderen, mit der Natur und mit sich selbst lebte. An ihm wird man gewahr, bis zu welchem Punkt die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesell­schaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind.»

8 Vgl. Nr. 79.

9 Nr. 76. In Nr. 89 spricht Franziskus auch von einer «universalen Gemeinschaft» bzw. «universalen Familie».

10 Nr. 78.

11 «Manchmal bemerkt man eine Versessenheit, dem Menschen jeden Vorrang abzusprechen, und es wird für andere Arten ein Kampf entfacht, wie wir ihn nicht entwickeln, um die gleiche Würde unter den Menschen zu verteidigen» (Nr. 90).

12 Nr. 81.

13 Nr. 82.

14 «Wir bemerken nicht mehr, dass einige sich in einem erniedrigenden Elend dahinschleppen ohne wirkliche Möglichkeiten, es zu überwinden, während andere nicht einmal wissen, was sie mit ihrem Be­sitz anfangen sollen, voll Eitelkeit eine vorgebliche Überlegenheit zur Schau stellen und ein Ausmass an Verschwendung hinter sich zurücklassen, das unmöglich verallgemeinert werden könnte, ohne den Planeten zu zerstören. Wir lassen in der Praxis weiterhin zu, dass einige meinen, mehr Mensch zu sein als andere, als wären sie mit grösseren Rechten geboren» (Nr. 90).

15 Nr. 199.

16 Nr. 202.

17 Die Parteinahme Franzi­kus’ für jene Gruppe von Wissenschafter, die dem menschlichen Einfluss auf die Klimaveränderung grosse Bedeutung zumessen, sorgte für öffentliche Aufmerk­samkeit.

18 Nr. 47.

19 Nr. 53.

20 Nr. 165.

21 Nr. 122. Vgl. dazu auch Nr. 123: «Die Kultur des Relativismus ist die gleiche Krankheit, die einen Men­schen dazu treibt, einen anderen auszunutzen und ihn als blosses Objekt zu behandeln (…). Wenn es weder objektive Wahrhei­ten noch feste Grundsätze gibt ausser der Befriedigung der eigenen Pläne und der eigenen unmittelba­ren Bedürfnisse – welche Grenzen können dann der Menschenhandel, die orga­nisierte Kriminalität, der Rauschgifthandel, der Han­del mit Blutdiamanten und Fellen von Tieren, die vom Aussterben bedroht sind, haben? Ist es nicht dieselbe relativistische Denkweise, die den Erwerb von Orga­nen von Armen rechtfertigt, um sie zu verkaufen oder für Versuche zu verwenden, oder das ‹Wegwerfen› von Kindern, weil sie nicht den Wünschen ihrer Eltern entsprechen? Es handelt sich um die gleiche Logik des ‹Einweggebrauchs›, der so viele Abfälle produziert nur wegen des ungezügelten Wunsches, mehr zu konsu­mieren, als man tatsächlich braucht.»

22 Nr. 106.

23 Nr. 123.

24 Der Begriff «Kurswech­sel» wird bereits in Nr. 53 verwendet.

25 Nr. 224.

26 Nr. 205.

27 Nr. 213.

28 Nr. 219.

29 Nr. 220.

30 Nr. 222 f.

31 Nr. 223. Vgl. auch Nr. 225: «Eine ganzheitliche Öko­logie beinhaltet auch, sich etwas Zeit zu nehmen, um den ruhigen Einklang mit der Schöpfung wiederzuge winnen, um über unseren Lebensstil und unsere Ideale nachzudenken, um den Schöpfer zu betrachten, der unter uns und in unserer Umgebung lebt und dessen Gegenwart ‹nicht herge­stellt, sondern entdeckt, enthüllt werden› muss.»

32 Nr. 206.

33 Vgl. Nr. 165.

34 Vgl. Nr. 102 und 103.

35 Vgl. dazu Gerhard Droesser: Die Kultivierung des Begehrens. Konsum­gestaltung im Horizont liberaler Ethik, in: Stephan Wirz / Gerhard Droesser: Urbaner Lebens- und Kons­umstil. Zürich 2014.

Stephan Wirz

Stephan Wirz

Stephan Wirz, Prof. Dr. theol., leitet den Bereich «Wirtschaft und Arbeit» der Paulus-Akademie Zürich und ist Titularprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.