Auf der Suche nach Identität

 

Nach entbehrungsreicher Missionstätigkeit wurden sie aus der Mandschurei gejagt und suchten nach neuer Identität. Bis 1953 waren es 49 Missionare, die ab 1926 – ab 1927 auch insgesamt 24 Ingenbohler Schwestern – im Norden Chinas den christlichen Glauben bezeugten. Bis zur Anerkennung ihres Kolumbien-Einsatzes gingen die Chinamissionare buchstäblich lange Wege.

Akribisch aufgearbeitet und reich bebildert hat Ernstpeter Heiniger SMB diese weitgespannte Geschichte der Missionsgesellschaft Bethlehem Immensee.1 Seine Mitbrüder standen im Einsatzgebiet von Qiqihar vor der Aufgabe, mit den dort "zerstreut lebenden Getauften"2 christliche Gemeinden aufzubauen. Missionarisch zu leben, bedeutete, einfache Bedingungen akzeptieren, Sprachbarrieren überwinden, in grosser Hungersnot (1929) Hilfe leisten. Bis 1941 wurden auf "24 Haupt- und 300 Nebenstationen 25 000 Getaufte und 5000 Taufbewerber/-innen pastoral begleitet"3 Erspart blieb den Missionaren nichts: Die Besetzung der Mandschurei durch japanische Truppen, kriegerische Wirren, russische und schliesslich sowjetische Einflussnahme, Ausrufung der Volksrepublik China, sich als Bauern tarnen müssen, von Räuberbanden überfallen – frühzeitig starben drei von ihnen, drei erlitten den gewaltsamen Tod. Letztlich hat die Qiqihar- Mission "Heimatrecht (…) als Protomission, weil sie die Missionsgesellschaft wachsen liess und diese sich auf neue Aufgaben in anderen Kontinenten vorbereiten konnte".4 Der spätere Generalobere Max Blöchliger äusserte zur Frage nach dem Erfolg in der Mandschurei: "Wir haben (…) in den Gebieten, in denen wir gearbeitet haben, eine grosse christliche Gemeinschaft. Das zu sehen, ist für mich etwas vom Schönsten. Wie das religiöse Fundament, das wir den Leuten geben durften, über all die Zeit standhielt, so armselig das alles auch war, was man hat bieten können und so wenig adaptiert an die andere Kultur."5

Suche nach Alternativen

Es bedurfte langer Abklärungen. Die aus China Ausgewiesenen fanden einerseits Zugang in Japan, Taiwan und Denver (USA), von den Ortsbischöfen zur Mitarbeit eingeladen. Anderseits suchte man mit den arbeitslosen Missionaren deren Eignung für neue Aufgaben zu klären und konnte aufgrund von Kontakten mit schweizerischen Diözesanpriestern in der Erzdiözese Popayán im Dekanat El Rosario neue Verbindlichkeiten finden.6 Die Herausforderungen in der "armen und verlassenen Gegend" waren gross, die zugewiesenen Aufgaben nicht immer lösbar, die Geduld aller gefragt, die Zweifel am missionarischen Selbstverständnis7 steigend, nicht unwesentlich dabei die Unterstützung durch die Franziskanerinnen als Sprachlehrerinnen und Gastgeberinnen.

Glaubenskern als befreiende Kraft

Das Bekenntnis zu Kolumbien stand fest, doch musste die SMB-Gruppe sich neu erfinden angesichts "religiöser Verwahrlosung"8, einer Kirche in Not und hohem Bedarf an Neuaufbau. Zur entscheidenden Frage, wie die erfahrenen Missionare im neuen Gebiet ihrer Berufung entsprechen konnten9, arbeitet das Buch die Quellen minutiös auf. Ihre in China realisierte Mission war nicht kompatibel mit jener in El Rosario. Die schweizerischen Diözesanpriester charakterisierten ihren eigenen Einsatz und den der neu mitarbeitenden Immenseer als eine "ausgesprochene Wandermission". Die ehemaligen Chinamissionare äusserten sich zu ihrer neuen Aufgabe, "ihnen seien Pfarreien angeboten worden, welche die schweizerischen Diözesanpriester nicht betreuen wollten". Später stiessen, ohne missionarische Erfahrung, zwei Priester und zwei Brüder zur Pioniergruppe. Ein Reisebericht des "wortgewaltigen Anwalts" Luigi Bulotti beschrieb die kritischen Wohn- und Arbeitsverhältnisse ebenso wie die beschwerliche Pastoral in den Kordilleren.10

Die Chinamissionare wirkten unter noch "nicht genügend" Evangelisierten, wie nach dem SMB-Kapitel 1967 und dem Distrikt-Kapitel 1969 festgestellt wurde, welche beide im Nachgang des Konzils einer neuen Zeit entgegengingen, in der Mission dem ganzen Menschen dienen sollte. Die Chinamissionare trugen den "Glaubenskern" mit der Kraft in sich, "die echte Befreiung des Menschen zu inspirieren"11. Ihrem Vorbild folgten bald missionarische Equipen mit dem Ziel, Pastoral und den Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in glaubwürdige Verbindung zu bringen. Missionarische Identität hat sich gewandelt!

 

 

 

1 Ernstpeter Heiniger: Missionare auf der Suche nach ihrer Identität, Von der Mandschurei in die kolumbianischen Kordilleren, Mission im Dialog, Bd. 5, Rex-Verlag Luzern, 2016. Auszug Klappentext: "Es ist das Verdienst der ehemaligen Chinamissionare, in Kolumbien eine verwahrloste Kirche revitalisiert zu haben. Sie stehen als Zeichen für eine universale Kirche, die Befreiung und Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen als Wirklichkeit anstrebt und zu einer Erfahrung werden lässt."

2 Ebd. 22

3 Ebd. 28

4 Ebd. 37

5 Zitat aus Balz Theus künstlichem Dialog "Immensee im Herbst" anlässlich der Buchpräsentation vom 13. Sept. 2016 im Romero-Haus Luzern, 5f.

6 Ebd. 69–92: Schlüsselstellen aus Briefen mit Fidei-Donum-Priestern aus der Schweiz (Linus Looser / Wilhelm Fillinger) wie zur Zusammenarbeit mit der Erzdiözese Popayán.

7 Ebd. 93–115, 103 ff. 8 Berichte des Oberen Ferdinand Lachenmeier zeichnen eindrücklich diese Situation glaubensmässiger, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Not, ebd. 106–115.

9 Ebd. 116–130: betr. "Wandermission" 116, Anm. 220, betr. Kritik 129.

10 Bulotti war langjähriger "Betlemme"-Redaktor, der ital. Ausgabe der Missionszeitschrift "Bethlehem", ebd. 135–140. Karl Hüsler und Heinrich Wenk reisten als SMB-Brüder ohne Aussendungsfeier (!) nach Kolumbien, um als Fachleute unzählige Sanierungen, Renovationen und Bauten zu realisieren und über Jahrzehnte der Kirche in Not zu dienen.

11 Ebd. 173.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)