Auf dem Weg zu einer eigenen Profession

Die Rahmenbedingungen der Spitalseelsorge im Kanton Bern haben sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Ausgangspunkt war ein Artikel im
Spitalversorgungsgesetz, der die Spitalseelsorge gesetzlich verankert.1

Bis dahin war die Situation im Kanton Bern unterschiedlich geregelt. Einige grössere Spitäler finanzierten die Seelsorge aus eigenen Mitteln, in anderen Spitälern erfolgte die Finanzierung in Kooperationen zwischen den Spitälern und Kirchgemeindeverbänden, in vielen kleineren Spitälern gab es überhaupt keine institutionelle Spitalseelsorge und die Patientinnen und Patienten wurden von Gemeindeseelsorgenden betreut. Um die Umsetzung des Gesetzes festzulegen, setzte der zuständige Regierungsrat eine Arbeitsgruppe ein, welche eine Verordnung erarbeiten sollte. Mitglieder der Arbeitsgruppe waren Mitglieder des privaten und des öffentlichen Spitalverbandes sowie der Interkonfessionellen Konferenz (IKK)2. Bei der Entwicklung der Verordnung waren drei Aspekte wesentlich:

Es wurde erstens anerkannt, dass Spiritualität eine Wirkung auf Gesundheit und Lebensqualität der Patienten haben und eine wichtige Dimension der Patientenzufriedenheit darstellen kann. Damit wurde zweitens die Wichtigkeit spiritueller Begleitung verbunden. Die Arbeitsgruppe fand sich im Verständnis des Bundesamtes für Gesundheit: «Die spirituelle Begleitung leistet einen Beitrag zur Förderung der subjektiven Lebensqualität und zur Wahrung der Personenwürde angesichts von Krankheit, Leiden und Tod. Dazu begleitet sie die Menschen in ihren existenziellen, spirituellen und religiösen Bedürfnissen auf der Suche nach Lebenssinn, Lebensdeutung und Lebensvergewisserung sowie bei der Krisenbewältigung.»3 Und drittens verständigte man sich auf das Konzept der Spiritual Care als Zusammenspiel von gesundheitlicher (allgemeiner) Spiritual Care und seelsorglicher (spezialisierter) Spiritual Care für die spirituelle Unterstützung von Patientinnen, Patienten und deren Angehörigen.

Aufgrund der Verordnung wurden den Spitälern im Dezember 2019 vom Spitalamt drei Anforderungen mitgeteilt:

a) Jedes Spital muss ein Seelsorgekonzept vorlegen, welches 16 Kriterien zu erfüllen hat,
b) jedes Spital muss jährlich einen Tätigkeitsbericht zur Spitalseelsorge vorlegen und
c) das Spitalamt behält sich vor, punktuell direkt bei den Leistungserbringern zu prüfen, ob das Konzept umgesetzt wird.

Entflechtung von Kirche und Staat

Neben den gesetzlichen haben sich auch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen verändert: Sie sind geprägt vom weiteren Rückgang der konfessionellen Zugehörigkeit der Bevölkerung und von Bestrebungen des Kantons, die Diversität der Weltanschauungen der Bürgerinnen und Bürger auch politisch zu berücksichtigen. 2018 ist die Zahl der Mitglieder der reformierten Landeskirche unter die Hälfte der Berner Bevölkerung gesunken, 49 Prozent gehören ihr heute noch an. Die römisch-katholische Landeskirche hat einen Anteil von 15,4 Prozent. Die übrigen Glaubensgemeinschaften kommen zusammen auf einen Anteil von 12 Prozent. Der Anteil der Konfessionslosen beträgt 22,3 Prozent.

Zwei Entwicklungen im Verhältnis der Landeskirchen zum Staat zeigen die veränderte Situation auf. Einerseits wurden mit dem am 1. Januar 2020 in Kraft gesetzten Landeskirchengesetz Kirche und Staat weitgehend entflechtet. So sind beispielsweise die Pfarrerinnen und Pfarrer nicht mehr wie bisher Kantonsangestellte, sondern nun Angestellte der Kirchen selbst. Andererseits wurde die Stelle innerhalb der Kantonsverwaltung, die sich um die kirchlichen Belange kümmerte, der «Beauftragte für kirchliche Angelegenheiten», umgewandelt in die Stelle des «Beauftragten für kirchliche und religiöse Angelegenheiten». Diese Veränderung macht deutlich, dass der Staat sich mit allen religiösen Gemeinschaften befassen und deren Zugang zu den politischen und gesellschaftlichen Instanzen und Ressourcen erleichtern will.

Gesellschaftlich und politisch kann man im Blick auf die institutionelle Seelsorge von einer Zeit des Übergangs sprechen. Dabei scheint offen, ob die kirchlich mandatierte Seelsorge auch in Zukunft das politische Vertrauen erhält, alle Menschen in Spitälern und Gefängnissen seelsorglich zu unterstützen. Die Entwicklungen legen nahe, dass sie dieses Vertrauen nur dann weiterhin erhält, wenn sie zulässt oder sogar aktiv dafür eintritt, dass auch Seelsorgerinnen und Seelsorger anderer Religionsgemeinschaften am seelsorglichen Grundauftrag des Staates beteiligt werden.

Seelsorge für alle und mit allen

Die gesetzliche Verankerung der Spitalseelsorge führt im Aufgabenverständnis der Seelsorge zu zwei Konsequenzen: Die Spitalseelsorge muss einerseits, was ihre Adressaten betrifft, prinzipiell für alle Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen zur Verfügung stehen. Und sie muss andererseits, was ihre Profession betrifft, prinzipiell offen sein für Fachleute, die aus anderen als einem landeskirchlichen Kontext stammen.

Vor rund zwanzig Jahren hat – zuerst am Inselspital, dann auch an anderen grösseren Spitälern im Kanton Bern – eine «Ökumenisierung» der Spitalseelsorge stattgefunden, die sich insbesondere darin ausdrückte, dass die Bettenstationen im Spital nicht mehr konfessionell betreut wurden, sondern die Seelsorgenden beider Konfessionen sich um Patientinnen und Patienten beider Konfessionen und auch anderer Weltanschauungen kümmerten. Damit einher ging eine Erweiterung der Begründung der Notwendigkeit von Seelsorge im Gesundheitswesen, vom Recht der Patientin oder des Patienten auf seelsorgliche Begleitung als Konkretion der Religionsfreiheit hin zur Bedeutung von subjektivem Wohlergehen und von Lebensqualität der Patientinnen und Patienten, zu der die spirituelle Dimension wesentlich dazu gehört.

Eine weitere Öffnung der Spitalseelsorge, die nun ihre Akteure selbst betrifft, steht noch am Anfang. Es liegt in der Logik der Berücksichtigung der weltanschaulichen Pluralität der Patientinnen und Patienten, dass auch Fachleute unterschiedlicher Religionen als Akteure in die Betreuung einbezogen werden. Seit 2019 ist am Inselspital auch ein muslimischer Seelsorger zu einem kleinen Prozentsatz tätig. Ein Anfang, der aber paradigmatisch den Beginn einer neuen Ära einzuläuten scheint: jene einer weder nur kirchlichen noch nur christlichen Seelsorge, sondern einer Spitalseelsorge, deren Akteure aus unterschiedlichen religiösen Traditionen stammen.

Neue Aufgaben

Die bis hierher beschriebenen Prozesse führten nicht nur dazu, dass sich das Verständnis der Spitalseelsorge im Gesundheitswesen verändert hat, sondern auch dazu, dass sich das professionelle Selbstverständnis der Spitalseelsorge selbst zu verändern beginnt: Die Spitalseelsorge
ist auf dem Weg, eine eigenständige Profession zu werden. Wichtiger Faktor für diese Entwicklung ist die veränderte Anstellung der Seelsorgefachpersonen. Indem diese vom Spital rekrutiert werden, unterliegen sie den Rahmenbedingungen und Plausibilitätsdynamiken des Gesundheitswesens. Sie sind herausgefordert, die Qualität ihrer Arbeit auszuweisen und Auskunft darüber zu geben, welche Wirkung ihre Arbeit auf die Gesundheit und Lebensqualität der Patientinnen und Patienten hat. Das ist neu, denn bisher galt, «dass das Wirken der spezialisierten Spiritual Care – und dabei insbesondere ihre Effekte über Patientinnen, Patienten und Angehörige hinaus – im Spitalbetrieb grösstenteils eine Blackbox ist, was dazu beiträgt, dass ihre Notwendigkeit mitunter in Frage gestellt wird.»4

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich für die Seelsorge zwei Herausforderungen: Sie ist erstens herausgefordert, die Spiritualität als Thema der ganzen Gesundheitsversorgung verständlich zu machen und ihre Bedeutsamkeit für die Betreuung der Patientinnen, Patienten und ihrer Angehörigen aufzuzeigen. Dafür muss sie die spirituelle Dimension im Kontext des medizinischen Paradigmas verorten. Zweitens gilt es, das Paradigma der Religionsfreiheit neu einzuordnen: Ging es bisher darum, den Menschen, die sich einer bestimmten religiösen Tradition zugehörig fühlen, zu unterstützen, ihren Glauben auszudrücken, geht es im anthropologischen Spiritualitätsverständnis von Spiritual Care nun darum, diese Möglichkeit allen Patientinnen und Patienten zu gewähren. Das Verständnis von Spiritualität als Aspekt von Gesundheit macht eine Integration dieser Dimension in die Tätigkeit aller Berufsgruppen erforderlich. Potenziell sind alle Gesundheitsberufe mit spirituellen Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten konfrontiert. Damit sind sie auch professionell herausgefordert, diese Dimension im Rahmen ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen. Dies wiederum führt zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen und der Seelsorge. Dabei ist die Seelsorge herausgefordert, die Qualität ihrer Arbeit und ihre Rolle im interprofessionellen Team zu klären und entwickeln.

 Pascal Mösli

 

1 Artikel 53 des Spitalversorgungsgesetzes: «Die im Kanton Bern gelegenen Listenspitäler stellen für die Patientinnen und Patienten sowie für deren Angehörige die Spitalseelsorge sicher.»

2 Die IKK ist ein Zusammenschluss der drei Landeskirchen im Kanton Bern sowie der Jüdischen Gemeinschaften.

3 Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die die Schweizerische Konferenz der Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) (2011), Nationale Leitlinien Palliative Care, 14.

4 Moll, Marianne, Effekte der spezialisierten Spiritual Care im Spital auf das medizinische Kerngeschäft – Postulierung eines Wirkungsmodells. Masterarbeit, Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie WIG, School of Management and Law, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, 2020, 4.

 


Pascal Mösli

Pascal Mösli ist Verantwortlicher für Spezialseelsorge und Palliative Care der reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn. Daneben ist er Dozent im Gesundheitsweisen und Mitarbeiter der Professur Spiritual Care in Zürich.

 

BONUS

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