Aspekte zur traditionellen Zwei-Naturen-Lehre

Cover (Bild: weltbild.de)

Zwei Christologie-Vorlesungen und ein Vortrag aus dem Nachlass von Walter Mostert

Dass Jesus Christus «wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich» ist, gilt bis heue als ökumenische Lehrgrundlage der christlichen Kirchen. Der Autor beschreibt die existenzielle Dimension dieses Dogmas.

Am frühen Karfreitagmorgen trällerte aus dem offenen Fenster einer Parterrewohnung ein alter Schlager: «Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht, alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu.»

Mit Schalk in den Augen erzählte Walter Mostert (1936–1995), Professor für Systematische Theologie an der Universität Zürich, folgende Anekdote: Die Basler Synode habe, wie in den Protokollen nachzulesen sei, in der Reformationszeit diejenigen Pfarrer, die Anlass zur Vermutung gaben, sie hätten nicht genügend intensiv Theologie studiert, zurück an die Ausbildungsstätte geschickt.

Wir Theologinnen und Pfarrer hingegen können nun bequem zu diesem Buch greifen, das zwei Christologievorlesungen sowie einen Vortrag aus Mosterts Nachlass enthält. In welcher Grundsituation dieser eminent wichtige Lehrer, dessen ebenso eigenständige wie unbestechliche Stimme nun dank der Arbeit der Herausgeber erneut vernehmbar ist, Theologie betrieb und ihre existenzielle Dimension reflektierte, stellt er gleich zu Beginn klar: «Christologie wird also in einer Situation betrieben, in welcher der, der Christologie betreibt, selbst über seinen Glauben an Jesus Christus nachdenkt […]»

Wie Mostert die Exegese biblischer Texte, die dogmatische Besinnung und die relationalontologische Dimension des Glaubens unentwegt miteinander verknüpft und verwebt, regt auf besonders befruchtende Weise zum theologischen Denken und Nachdenken an.

Gottesgewissheit des Jesus

Warum berufen sich Christentum und Kirche auf Jesus als ihren Herrn? «Der Grund, sich auf Jesus zu berufen, war, und dies war noch einmal das theologische Pathos der Reformation, Jesus als Heiland der Welt.» Was uns Jesus extrem fremd mache und zugleich an ihm interessiere, sei Jesu Gottesgewissheit, sein Existieren im Erfahren der Nähe, in der Wirklichkeit, des lebendigen Wirkens Gottes.

«Wir alle, auch wir Christen, müssen uns ja ehrlich eingestehen, dass wir Gott, Gott selbst, wenig oder gar nichts zutrauen. Und Gott, das ist allenfalls Chiffre für die Motive unserer Aktivität, oder Chiffre für unsere religiöse Stimmung. Vertrauen, Hoffnung, Liebe, Glaube können wir kaum noch mit Gott verbinden, das sind längst Bezeichnungen psychischer Zustände geworden.» Die ganze ethische Verkündigung Jesu, seine Interpretation des Willens Gottes, seine Verkündigung des Reiches Gottes würden zerstört, wenn sie aus Jesu überwältigender Erfahrung der Nähe Gottes herausgenommen würden.

Der Mensch als Gott-loser

Jesu ganze Verkündigung sei ausschliesslich Hinweis auf Gott und seine Nähe. Jesus ist Gegenwart des Vaters, Sichtbarmacher Gottes. Das Neue Testament rechne aber mit Menschen, so Mostert weiter, die durch das von ihnen mitgebrachte Selbstverständnis, ihr Denken und Tun, das Verständnis von Jesus Christus als Wort Gottes unmöglich machen. Darum sei das Verständnis des Menschen als Sünder, wie es die Anthropologie des Neuen Testaments konstituiere, von fundamentaler hermeneutischer Bedeutung. Der Mensch als Sünder ist der Gottlose, der Ungläubige, der Gott durch seinen Unglauben in die Ferne verfügt, der sich als Hand Gottes missverstehende Mensch, der sich an die Stelle Gottes setzt und Gott aus seinem Bewusstsein verdrängt, indem er nur noch an sein eigenes frommes Handeln denkt.

Dazu Mostert: «Die Phrase […], Gott habe keine anderen Hände als die unseren, ist ja nicht nur von einer traurigen theologischen Geschmacklosigkeit, sondern es ist im Grunde ein atheistischer Satz.» Die Chance Jesu von Nazareth, in der praktisch atheistischen Christenheit noch einmal gegenwärtig zu werden, hänge davon ab, ob sich die Christenheit noch einmal radikal für den Glauben interessiere: «Tut sie das, dann lenkt sich das Interesse der Kirche auf das Befremdlichste an Jesu Verkündigung: Sein Stehen in der Nähe, sein Rechnen mit der Nähe Gottes, die Klarheit seines Glaubensverständnisses.»

Macht des Todes gebrochen

Im Karfreitagsgottesdienst kamen mir sowohl Mosterts Anekdote wie auch der Schlager in den Sinn. Würden die Trivialverse als Anrede Gottes an die Menschen verstanden, als Ansage von Gottes Liebe, so würden sie einstimmen in die Liebe Gottes, die in Christus Jesus, unserem Herrn, erschienen ist und von der uns nichts scheiden kann.

Ist nicht gerade das die Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes: dass Marmor, Stein und Eisen und alles, was von Menschenhand gebaut wird, brechen, wegbrechen, abbrechen kann, dass aber die Macht des Todes ein für allemal gebrochen ist, weil Gott seine unverbrüchliche Treue, seine unzertrennliche Liebe zu uns Menschen im Tod Jesu am Kreuz manifestiert hat?

Mostert fasst es so: «Liebe ist Nähe», die Erfahrung unüberbietbarer, konkreter Nähe, sie «ist der Zusammenhang, den der Schöpfer von Anbeginn zwischen sich und den Geschöpfen und den Geschöpfen untereinander gestiftet hat. […] Und wenn diese Liebe geboten werden muss, so nicht deshalb, weil sie noch nicht verwirklicht ist, sondern weil ich hinter der Wirklichkeit dieser Liebe zurückbleibe, gerade vielleicht dadurch, dass ich mein Wirken und Tun so verstehe, dass ich diesen Liebeszusammenhang allererst zu erschaffen hätte.»

Walter Mostert: Jesus Christus – wahrer Gott und wahrer Mensch. Zwei Vorlesungen und ein Vortrag zur Christologie. TVZ-Verlag, Zürich 2012. Seiten, Fr. 38.–.

 

 

Adrian M. Berger

Adrian M. Berger

Adrian M. Berger ist Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Wallisellen und Mediator