Armenien einmal anders - Not und Hilfe

In diesem Jahr 2015 ist es 100 Jahre her, dass das Osmanische Reich «die armenische Frage» endgültig lösen wollte: durch Vernichtung aller Armenier. Die NZZ berichtete am 24. April 2015: «Über die ‹armenische Frage› wird in der Türkei heute unverkrampfter diskutiert – solange nur niemand den Begriff ‹Genozid› verwendet.»

Begegnungen

Ein soeben erschienenes umfassendes Buch1 packt das Thema von einer anderen Seite an, man merkt es schon am Titel: «Zeugen der Menschlichkeit». Der Untertitel macht es dann deutlich: «Der humanitäre Einsatz der Schweiz während des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich 1894–1923. Zum 100. Gedenkjahr des Völkermordes». Dem genauen Nachweis dieser Hilfeleistung auf 350 Seiten gehen 150 Seiten einer übersichtlichen Darstellung voran, worin Armenien, die Armenier, die armenische Sprache von ihrem ersten Auftauchen in der Geschichte an skizziert werden.

Forschung und Erfahrung

Der Autor des neuen Buches ist 1959 in Beirut (Libanon) geboren, er ist Priester der armenisch-apostolischen Kirche und hat 1993 in Wien doktoriert, er ist verheiratet und hat zwei nun erwachsene Kinder. Nach vielen andern Einsätzen ist er seit 1995 in der Schweiz tätig. Vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund wurde er beauftragt, im Gedenken an die Armenier-Massaker vor 100 Jahren eine Schrift zu verfassen mit Schwergewicht auf der damals umfassenden Hilfe aus der Schweiz. Mit einem Besuch des Armenischen Katholikos Aram I. von Kilikien (verantwortlich für die Armenier im Nahen Osten und weitgehend in der Diaspora) Ende September 2015 in der Schweiz sollten auch die Schweizer Helfer von damals geehrt werden. Was Dr. Manoukian an reichem Material (v. a. auch aus armenischen Quellen) zutage förderte, hat er so verarbeitet und illustriert, dass die Lektüre spannend und bereichernd, aber auch erschütternd wird.

Wie kam es dazu?

Man muss zwischen der seit 1991 bestehenden unabhängigen Republik Armenien (ca. 30 000 km2) und dem historischen Armenien (ca. 400 000 km2) unterscheiden, das weitgehend in der heutigen Türkei und in angrenzenden Ländern zu suchen wäre. Armenien war selten unabhängig, meist aufgeteilt und unterdrückt: Seldschuken, Mongolen, Araber, Perser brachen ein, annektierten, teilten auf, verloren Gebiete; zuletzt war Armenien zwischen dem russischen Zarenreich und dem islamischen Osmanenreich eingespannt.

Besonders unheilvoll waren die Zustände im islamischen Osmanischen Reich, das seit 1800 am Serbeln war («der kranke Mann am Bosporus») und mit Gewaltherrschaft sich aufrechterhalten wollte. Ein besonderer Dorn im Auge waren den Sultanen und dem Volk stets die Armenier, denn sie waren gebildet, strebsam, tüchtig – und überdies Christen. Doch dann verbreitete sich im 19. Jahrhundert allüberall der Nationalismus; die Türken besannen sich auf ihre Vergangenheit, Kultur und Sprache, und strebten ein grosstürkisches Reich an, das alle turksprachigen Völker bis nach Kleinasien hätte mit einbeziehen sollen.

Vernichtung: Plan und Massnahmen

Mit dem unberechenbaren Osmanenreich und besonders mit den stark benachteiligten Armeniern darin beschäftigten sich selbst die europäischen Grossmächte, was die Osmanen auch demütigte; man drängte auf Reformen; es gab auch Ansätze (oder jedenfalls Versprechen) dazu. Sultan Abdul Hamid II. (im Amt 1876–1909) regierte mit Verwischungstaktiken gegen aussen und mit blutigem Terror gegen innen, ihm fielen 1894–1896 schon etwa 100 000 bis 300 000 Armenier in einem heimtückisch organisierten Vernichtungsvorgang zum Opfer, nur weil sie die international geforderten und nie verwirklichten Reformen verlangten. Die Blutrunst des Sultans, die Divergenzen bei den Grossmächten (die protestierten, aber nicht reagierten) und eine desorganisierte armenische Opposition führten zu diesem Resultat.

Mit Hilfsorganisationen (zusammengeschlossen im «Zentralkomitee der philarmenischen Bewegung in der Schweiz»), einer Grosskundgebung in Lausanne und einer Eingabe vom März 1897 an den Bundesrat mit schliesslich 425 293 Unterschriften (bei einer Bevölkerung von 3,1 Millionen!) wollte die Schweiz sich bei den Grossmächten für die Durchführung der Reformen in der Türkei einsetzen. Sie beliess es aber nicht bei Protesten, sondern setzte sich konkret ein. Vertrauenspersonen in der Türkei, die vor Ort Hilfe leisteten, wurden mit Geldspenden unterstützt, man gründete Waisenhäuser, man nahm Waisenkinder in Europa auf (was sich oft als wenig günstig erwies: Die Kinder wurden ihrer Kultur entwurzelt), man übernahm Patenschaften für Waisenkinder. In Waisenhäusern vor Ort sorgten die meist protestantischen Betreuer(innen) dafür, dass die Kinder in die Gottesdienste der armenisch-apostolischen Kirche gingen, beteten auch mit ihnen und brachten ihnen die Bibel (in modernem Armenisch) nahe. Die Tätigkeit von Katholiken und Protestanten weckte bei Teilen der armenischen Hierarchie den Verdacht, es werde Proselytismus betrieben, was zu vielen Reibereien führte. Zumeist aber erwies sich die Zusammenarbeit, oft auch mit diplomatischen Vertretern aus Europa und USA, als sehr hilfreich.

1915

Eine «jungtürkische» Bewegung versprach, Abhilfe zu schaffen, und weckte bei religiösen und ethnischen Minderheiten Hoffnungen. Doch 1908 an die Macht gekommen, verfolgte sie ihre Idee vom grosstürkischen Reich, dem vorerst alle Armenier zu opfern waren. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, hielt sie – gedeckt von einem Geheimvertrag mit Deutschland und von der abgelenkten Aufmerksamkeit der Mächte – die Zeit für reif, die Armenier auszurotten. Wie sie diese Idee verfolgte, übersteigt alle Vorstellungskraft, die Zahl der Opfer kann nur vermutet werden, eineinhalb Millionen ist eine höchst plausible Schätzung.

Die führende Schicht der Männer in Istanbul wurde in einer Nacht gefasst und ermordet, Abertausende aus vielen Städten und Dörfern in langen Zügen «deportiert» (die wenigsten kamen am Zielpunkt an, in der Wüste um Aleppo, wo sie jämmerlich dahinsiechten), Frauen mit Kindern und Männer wurden getrennt, Hitze, Hunger und Durst ausgeliefert und elend liegen gelassen. Gewöhnlicher und verbrecherischer Pöbel und die auch unterdrückten Kurden wurden auf die Armenier losgelassen; die übelsten sexualsadistischen Untaten wurden an Knaben, Mädchen, Frauen ausgeübt. Viele wurden in Gewässer, v. a. in den Euphrat, geworfen.

Diesen Ungeheuerlichkeiten stehen leuchtende Beispiele von Helfern u. a. aus der Schweiz gegenüber, die unter widrigsten Umständen eindrucksvolle Hilfe leisteten, abgesehen von den ständigen Geldspenden vieler, auch bescheidener Leute. Von vielen seien erwähnt Beatrice Rohner (1876–1947) aus Basel, die am Ende seelisch zusammenbrach, sodann Jakob Künzler (1871–1949) aus Walzenhausen (AR), Schreiner, dann Krankenpfleger; er war ein genialer praktischer Arzt und einfallsreicher Organisator, unermüdlich aus tiefstem Glauben heraus (ab 1899 in der Türkei, seit 1922 im Libanon); ihn lernte der schweizerische Vizekonsul in Jaffa, Carl Lutz – ebenfalls aus Walzenhausen –, kennen, der sich Künzler als Vorbild nahm für seine heroische Judenrettung in Budapest 1944.

Die heutige Türkei kann sich nur zu einer Uminterpretation der Tatsachen aufraffen. Wozu aber das Schweizervolk, aufgerufen von aufmerksamen und mutigen Leuten, fähig war, lenkt die Besinnung auf heute. Auffallend ist bei diesen Hilfsaktionen, dass sie besonders in der Westschweiz und bei den Reformierten Anklang fanden; immerhin ist, was die römisch-katholische Kirche betrifft, ein Artikel in der SKZ vom 21. März 1896 überliefert, worin die bischöfliche Kanzlei in St. Gallen einen «Appell an die Barmherzigkeit und Liebe» veröffentlichte und angesichts der politischen Zurückhaltung der europäischen Mächte aufrief, «auf mehr privatem Wege die Wohthätigkeit» zu betätigen, angespornt durch eine bereits getätigte Spende von Leo XIII.2

1 Zeugen der Menschlichkeit. Der humanitäre Einsatz der Schweiz während des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich 1894–1923. Zum 100. Gedenkjahr des Völkermordes. (Verlag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes) Bern 2015, 534 S., 82 s/w-Illustrationen, bestellbar über www.sek.ch.

2 Ein Appell an Barmherzigkeit und Liebe, in: SKZ 1896, Nr. 12, 92.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).