Allmähliche Verwirklichung

Im Lichte von Amoris Laetitia laden die Schweizer Bischöfe zu 
einer sorgsamen Pastoral der Begleitung, Unterscheidung und 
Eingliederung ein.

Amoris Laetitia (AL) wurde zur Last gelegt, sie werfe die traditionellen Werte der Ehe über Bord. Dem ist nicht so! Papst Franziskus spricht sich klar für das Evangelium der Ehe und der Familie aus. Faktum ist, dass die Exhortation AL sowohl enthusiastische als auch ratlose Reaktionen hervorgerufen hat. «Begeistert» haben die Gedanken zum «sehr schönen Hymnus über die Liebe». Sie helfen, die Sprache der Kirche im Blick auf die Leidenschaften, die Emotionalität, die Sexualität usw. zu erneuern. Eine gewisse Ratlosigkeit hingegen herrscht vor allem angesichts der Begriffe vor, mit denen der Papst das vorletzte Kapitel überschrieben hat: «begleiten, unterscheiden, eingliedern». Wie andere haben auch die Schweizer Bischöfe nach dem richtigen Verständnis dieser Begriffe gesucht. Nach eineinhalb Jahren legen sie ihre Botschaft zu AL vor:

«Mit seinem Schreiben Amoris Laetitia macht uns Papst Franziskus ein Geschenk. Als Ergebnis eines breiten synodalen Prozesses (die zwei Bischofssynoden von 2014 und 2015) fordert uns Franziskus zur Umkehr und zu einem missionarischen Bekenntnis auf, nicht nur im Bereich der Seelsorge für Ehepaare und Familien, sondern in der pastoralen Arbeit überhaupt. Er lädt uns ein, einen neuen Stil im kirchlichen Leben zu entwickeln, der sich durch eine Willkommenskultur in der Begleitung, der Unterscheidung und der Integration in allen Bereichen der Seelsorge auszeichnet.» (Botschaft der Schweizer Bischöfe, Nr. 1)

Die Bischöfe danken all jenen Personen, die am synodalen Weg in den Diözesen teilgenommen haben. In ihrer Botschaft legen sie allgemeine Leitlinien vor und laden jede Diözese und jede Region dazu ein, diese spezifisch in ihren Kontext einzubringen. Ich gebe fünf zentrale pastorale Handlungsleitlinien wieder:

1. Lernen, aufzunehmen

Die Aufnahmebereitschaft bildet vor jedem Urteil den pastoralen Schlüssel. Sie erlaubt auf der einen Seite, die unveränderte Lehre der christlichen Ehe zu bekräftigen. Ihr entsprechend spiegelt die Ehe die Einheit zwischen Christus und der Kirche und wird in der gegenseitigen, auf Dauer angelegten, für das Leben offenen, treuen und ausschliesslichen Hingabe zwischen einem Mann und einer Frau verwirklicht. Auf der anderen Seite lädt dieser pastorale Schlüssel ein, in Betracht zu ziehen, was in irregulären Situationen an konstruktiven Elementen zu werten ist.

Das Evangelium muss in seiner Integralität verkündet werden; das ist eine Frage der Kohärenz und der Wahrheit. Es geht hierbei nicht um eine unrealistische Idealisierung, sondern um die Offenheit für die Gnade. Man kann sich nicht für das Evangelium und gleichzeitig gegen die persönlichen Situationen entscheiden und umgekehrt. Daher ist es wichtig, die Situationen der Menschen zu kennen. Es gehört ebenso zur pastoralen Sorge, die Menschen auf ihr Gewissen als inneren Kompass zu verweisen und es im Lichte des Evangeliums zu erleuchten.

2. Lernen, zu schauen

AL richtet zuerst einen kontemplativen Blick auf die Liebe, wie sie der heilige Paulus in 1 Kor 13 beschreibt. So wird deutlich, welche Qualität unser Blick auf die menschliche Liebe in ihrer Entwicklung haben muss. Für die Seelsorger ist die Exhortation eine Einladung, eine Ehepastoral durch und für Ehepaare in die Wege zu leiten. Dazu gehört auch, den Ehepaaren zu begegnen, wo sie sind, und die gelebten positiven Elemente in den Familien zu entdecken, auch und besonders bei jenen, die nicht nach dem christlichen Ideal leben.

3. Lernen, zu begleiten

Begleiten ist eines der Schlüsselworte der Exhortation. Alle Familien sind auf einem Weg des möglichen Wachstums. Die Begleitung hilft, nach der Wahrheit zu suchen und zu leben. Dabei sollen Verurteilungen vermieden werden. Die Begleitung setzt vielmehr einen wertschätzenden Blick voraus, der heilt, befreit und ermutigt. Sie bedarf der Kunst des Hörens und der Kunst, eine Fähigkeit des Herzens zu entwickeln, die angemessene Worte und Gesten für die begleiteten Personen findet.

4. Lernen, zu unterscheiden

Ausführliche Paragrafen der Exhortation laden zu einer Kultur der Unterscheidung ein (AL 247–252; 296–300). Das Gesetz des Evangeliums ist für alle gleich, aber die Umsetzung dieses Gesetzes ist je nach Situation verschieden. Die Unterscheidung ist delikat angesichts schwieriger Situationen. «Daher sind, während die Lehre klar zum Ausdruck gebracht wird, Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen ...» (AL 79).

5. Lernen, zu integrieren

Die Botschaft der Schweizer Bischöfe legt den Akzent gemäss Papst Franziskus auf eine Kultur der Integration und des Mitgefühls. Diese gilt auch den Ehepaaren und Familien, die objektiv in Situationen des Bruchs und im Widerspruch zur Norm der Kirche leben. Die Bischöfe laden ein, zu allen Zeiten die Logik der Integration jener des Ausschliessens vorzuziehen. Die Kunst der Unterscheidung und der Integra- tion ist eine wichtige Herausforderung der Evangelisierung, besonders gegenüber geschiedenen und zivil wiederverheirateten Personen. Die Exhortation bittet ausdrücklich darum, dass diese Personen «auf die verschiedenen möglichen Weisen stärker in die Gemeinschaft integriert werden ..., wobei zu vermeiden ist, jedwelchen Anstoss zu erregen» (AL 299).

Die pastorale Sorge der Begleitung, Unterscheidung und Eingliederung ist als Prozess zu verstehen, der Zeit und Reife verlangt und ein Weg des Wachstums ist. Hier müssen die Seelsorger aufmerksam sein und diesen Weg des Wachsens und Reifens ernst nehmen, der bis zum Empfang der Sakramente gehen kann. Dabei sind die einzelnen Schritte auf diesem Weg nicht zu überspringen, denn dann wäre der Geist von AL missverstanden.


(Übersetzung: Maria Hässig)


Bischof Jean-Marie Lovey

Bischof Jean-Marie Lovey ist seit 2014 Bischof von Sitten. Er nahm an der zweiten Bischofssynode über die «Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute» (2015) teil. Er ist Mitglied der Chorherren vom Grossen St. Bernhard.

 

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