Religiöse Identität in pluraler Zeit? – Heimat auf Zeit!

Wenn die konfessionelle Bindung abnimmt, aber die religiöse Pluralität vor Ort und weltweit zunimmt, stellt sich die Frage neu: Wer bin ich? Wo gehöre ich dazu? Wo ist meine religiöse Heimat? Was ist meine religiöse Identität? – Diese durchaus persönliche und existenzielle Grundfrage steht im Zentrum eines wertvollen Bandes der Theologischen Hochschule Chur, der auf eine Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Graubünden im Jahr 2010 zurückgeht.1 Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass es heute schwierig geworden ist, eine Identität auszubilden und sich dauerhaft zu verorten. Stattdessen muss der Mensch in verschiedenen Räumen eine «eigene ergebnisoffene und bewegliche authentische Identitätskonstruktion» leisten (13). Diese neue multiple religiöse Identität ist gleichsam aus verschiedenen Bausteinen zu einem sich verändernden Mosaik selbst zusammenzubauen, was eine durchaus mühevolle Arbeit in unübersichtlicher Zeit darstellt. Die anspruchsvoller werdende Aufgabe der kohärenten Lebensgestaltung kann zu einem «erschöpften Selbst» (28) und zum Scheitern führen.

Heiner Keupp fragt in diesem Band, wie nun Identitätsarbeit konkret geschieht. Wie kann ich dieses patchworkartige konstruktive Unternehmen bewältigen, sodass ich zu mir selbst finde? Antwort: Ich muss die Fragmente verknüpfen, Sinnzusammenhänge herstellen und die eigene Biografie selbst «weben». Ob es gelingt, ist – von innen her gesehen – eine Frage der Authentizität, von aussen her eine Frage der Anerkennung. Doch kann diese Einbettung in stabile Konstellationen eben nur mehr auf Zeit geschehen. Identität in pluraler Zeit bringt mit sich, dass sie nur für eine bestimmte Spanne besteht und eine «Heimat auf Zeit» findet. Nötig dazu sind Kompetenzen wie die Fähigkeit des Aushandelns und der Partizipation in demokratischen Prozessen.

Christian Cebulj, Religionspädagoge der Theologischen Hochschule Chur, macht sich Gedanken über mögliche Beiträge des Religionsunterrichts zur Selbst- und Identitätsfindung Jugendlicher. Dabei greift er auf das entwicklungspsychologische und sozialwissenschaftliche Konzept Erik Eriksons (1902– 1994) zurück, weil dieser – ähnlich wie Fritz Oser und Paul Gmünder – Religiosität als Entwicklungsfaktor sieht. Identitätsbildung geschieht entlang der Biografie durch den fortlaufenden Prozess der Synthese, wenn das Selbstbild zersplittert ist und wieder zusammengebracht werden muss. Der Religionsunterricht kann den Schülerinnen und Schülern dadurch zur besseren Selbst- und Identitätsfindung verhelfen, dass er das kindliche Urvertrauen altersbezogen stärkt und vertieft. Ferner sollen die Kompetenzen des Sich-Erinnerns und des Erzählens eingeübt werden, weil sie als «identitätsbildende Kategorien konstitutive Bedeutung» haben (62). Anstelle einer «glatten Identität» entsteht ein «plurales Selbst», oder eine «Identität im Fragment» (63). Der Religionsunterricht kann diese Identitätsarbeit begleiten und unterstützen, nicht aber darüber verfügen.

Eva-Maria Faber, Rektorin der Theologischen Hochschule Chur, thematisiert die Aufgabe der Identitätsfindung aus spiritualitätstheologischer Sicht für das Seelsorgegespräch, die geistliche Begleitung und die Erwachsenenbildung bzw. Erwachsenenkatechese. Sie fragt nach den Ressourcen, die der christliche Glaube für die Identitätsfindung bereithält, wohl wissend, dass eine getroffene Option stets neu begründet, angepasst und ausgerichtet werden muss. Hierbei müssen die vielfältigen Lebensbezüge jeweils reflektiert und meditiert werden; auch die idealtypischen Reden von «Berufung», «Nachfolge » und «Sendung» müssen entwicklungsbezogen bedacht werden, damit sie nicht der Beliebigkeit verfallen. So kommt Frau Faber zu einer christlichen Lebensgestalt mit pluralen und individualisierten Formen, welche die inkarnatorische Struktur des christlichen Glaubens transparent machen. Anstelle einer fixen, unveränderlichen Identität tritt eine pluralitätsoffene flexible Identität in heute pluriformen Lebensentwürfen zutage, welche für Gesellschaft und Kirche eine Bereicherung darstellen. – Es ist ein Gebot der Stunde, die Identitätsproblematik aufzugreifen, weil sich die gesellschaftlichen und kirchlichen Bedingungen verändert haben und daraus neue Konsequenzen gezogen werden müssen.

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Kirche heute leben – eine Ermutigung

Manfred Belok / Helga Kohler-Spiegel (Hrsg.): Kirche heute leben. Eine Ermutigung (= Forum Pastoral 7). (Edition NZN bei TVZ) Zürich 2013, 144 Seiten.

Die Buchreihe «Forum Pastoral» des Pastoralinstituts der Theologischen Hochschule Chur beleuchtet Themen aus der Schnittstelle Theologie–pastorale Praxis. Im vorliegenden Band sind Beiträge von zwölf Autorinnen und Autoren vereinigt, die mit den Kurztexten (mit Angaben zu weiterführenden Texten und Fragen zum Weiterdenken, die eine Vertiefung ermöglichen) Mut zum Kirche-Sein und Leben in der Kirche machen wollen. Das Buch, das für die Erwachsenenbildung viele wertvolle Anstösse enthält, ist thematisch geordnet: «Wir sind getaufte Menschen»; «Gemeinsam sind wir Kirche»; «Wir alle sind keine Engel»; «Wer hat hier das Sagen?» und «Was lebt an Kirche?». Das Ziel des Buches: «Kirche ist dazu da, mitzuhelfen, die Rede von und den Glauben an Gott wach zu halten.» Dazu möchte das Buch einladen. (ufw)

 

1 Christian Cebulj / Johannes Flury (Hrsg.): Heimat auf Zeit. Identität als Grundfrage ethisch-religiöser Bildung (= Forum Pastoral Bd. 6). (Edition NZN bei TVZ ) Zürich 2012, 159 Seiten.

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.