Hoffnung

Reflexionen bei Grenzerfahrungen im Leben des Menschen

Wer ein «Warum» zum Leben hat, erträgt fast jedes «Wie». Die Wahrheit dieses Zitates von Friedrich Nietzsche zeigt sich in anschaulicher Weise im Leben Viktor Frankls (1905–1997), eines berühmten Arztes und Philosophen, Begründer der Logotherapie, einer sinnzentrierten Psychotherapiemethode. Seine Geschichte ist die eines Überlebenden des Konzentrationslagers mit all den sich daraus ergebenden tragischen Folgen wie dem Verlust seiner Eltern, seiner jungen Ehefrau und seines Bruders, die dort den Tod fanden. Doch Frankl hatte bereits vor dem Lager ein «Warum», ein «Wozu» gefunden, um dieses «Wie» voller Leid und Schmerz zu ertragen, ja sogar zu überwinden: sein Welt- und Menschenbild. Dieses begleitete ihn damals in die Hölle des Konzentrationslagers. Sprichwörtlich, denn sein Werk philosophischer Überlegungen war bei seinem Lagerantritt eingenäht im Futter seines Mantels. Dort verlieren sich die Spuren des Schriftstücks, das Frankl zusammen mit seiner Kleidung abgenommen wurde, doch der Inhalt des Geschriebenen überlebte. Als Frankl drei Jahre später durch das Kriegsende befreit wurde, war das Papier höchstwahrscheinlich längst den Flammen zum Opfer gefallen. Jedoch lebten seine Worte in Frankl weiter, geprüft und geläutert im Schmelzofen des Elends. Ihr Wahrheitsgehalt zeigte sich nicht mehr in Form theoretischer, philosophischer Überlegungen, sondern er war für immer eingraviert in Frankls Herzen. Die Theorie hatte ihre wortwörtliche Feuertaufe überstanden und sich in der Praxis als hoffnungsschaffende, lebenserhaltende Weisheit erwiesen.

Sinn und Vergebung

Aus seinen philosophischen Überlegungen und dem damit einhergehenden Weltbild schöpfte Frankl auch nach Kriegsende Kraft. Er fand darin weiterhin ein «Wozu» zum Weiterleben trotz aller Verluste und traumatisierender Erfahrungen. Entgegen vielen anderen, die durch ein ähnliches Schicksal gehen mussten und dabei emotional und psychisch Schiffbruch erlitten hatten, bescherte seine Art und Weise, dem Leben zu begegnen, Frankl eine vollständige Genesung und eröffnete ihm einen Weg in eine lebbare Zukunft. Wo andere unter der Last der Ungerechtigkeit und Grausamkeit zerbrachen, fand Frankl neue Kraft, einen Weg zum Weitergehen und Vergeben. Erneut niedergeschrieben, wurden seine philosophischen Überlegungen als Logotherapie veröffentlicht. Frankl erhielt bis zu seinem Lebensende 29 Ehrendoktorate, schrieb noch 32 Bücher (ein Grossteil davon wurde in 10 bis 20 Sprachen übersetzt), und so verteilte sich sein Gedankengut über den ganzen Erdball und wurde zum Samen neuer Hoffnung für viele Millionen Menschen.

Das Leben stellt an uns Fragen, nicht umgekehrt

Die Gedanken Viktor Frankls sind uns ausser in seinen Büchern auch in Videoaufnahmen, Interviews, in seiner Biografie und in Berichten derer, die ihn persönlich kannten, erhalten. Sie fordern uns heraus, die eigene Biografie nach Frankls Weltbild auszurichten. Er selbst formulierte das Geheimnis des Lebens sinngemäss mit den Worten, dass nicht wir es sind, die dem Leben Fragen zu stellen haben, sondern dass das Leben sie an uns stellt und wir aufgefordert sind, ihm zu antworten, mit unserer Einstellung ihm gegenüber und in dem, wie wir es verantworten. Meine eigene Ausbildung zur Logotherapeutin und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Menschen- und Weltbild bewirkten in meinem Leben ein ungeahntes Aufblühen und eine Freisetzung enormen Potenzials neuer Kraft und Möglichkeiten. In der Analyse dessen, wie dieser neue Schwung und Lebensmut eigentlich zustande gekommen war, wurde mir bewusst, dass es an der tief positiven, hoffnungsvollen Grundhaltung liegt, welche die Logotherapie dem Leben gegenüber einnimmt.

Grundthema der Therapie sind Sinnfindung und Sinnerkennung, das Bewusstwerden und Verstehen, dass das Leben in einem grösseren Zusammenhang steht und es einen grösseren Plan gibt, der sich als roter Faden durch unser Leben webt. Gleichsam einfühlsam und scharfsinnig bringt uns die Logotherapie mit diesem roten Faden in Kontakt, führt uns in ehrfürchtiges Staunen über das, was in der Vergangenheit schon wachsen durfte, und weckt neue Hoffnung auf das, was noch als potenzielle Möglichkeit zukünftig vor uns liegt. Diese Hoffnung kann sich so in Form einer Sicht «Wie weiter» oder einer neuen Ermutigung, noch nicht aufzugeben, zeigen, oder einer Überzeugung, dass trotz (oder gerade wegen) der Schwierigkeiten etwas Grösseres auf den leidenden Menschen wartet. Manchmal erweist sie sich auch als Hoffnung, wie diese ausgelöst werden kann, wenn man sich in seinen Reaktionen besser versteht. Zum Beispiel ausgelöst durch einen tieferen Zugang zur eigenen Biografie und ein damit einhergehendes Verständnis der aktuellen Schwierigkeiten und der Suche nach Möglichkeiten zu deren Überwindung.

Grenzen der Hoffnung

Was aber, wenn Hoffnung an ihre Grenzen stösst? Eine Grenze, wie sie im bekannten Gebet Franz von Assisis ausgedrückt wird: «Gott helfe mir zu ändern, was ich ändern kann, zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann, und gebe mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden!» Weisen doch die Worte der zweiten Hälfte des Gebets auf die Grenzen der Hoffnung hin: Wie leben wir mit dem Unabänderlichen, z. B. in Form einer tödlichen Krankheit oder des Verlusts eines geliebten Menschen? Auch – oder gerade speziell – solchen Fragen stellt sich die Logotherapie. Mit tiefer Weisheit führt sie uns einen Weg, unabänderbares Leid in Akzeptanz zu ertragen. Sie begleitet uns im Erkennen, dass es immer einen grösseren, wenn auch eventuell nicht sichtbaren Zusammenhang gibt, der über unser kleines Menschenleben hinausreicht, und dem gegenwärtigen Leid ein Sinn zukommt, dies daher nicht vergeblich ist. Somit wird das mit unabänderbarem Leid eng gekoppelte Gefühl der Hoffnungslosigkeit aufgeweicht, indem sich die Hoffnung über eine notwendig sichtbare Verbesserung der Umstände hinaus in einen geistigen Raum erstreckt. Wir sprechen hier von einer Hoffnung, die geschaffen wird durch die Sinnhaftigkeit des Ertragens eines Leides, des «Nichtvergeblich- Seins» unseres Daseins, einer Hoffnung, die unsere oberflächliche Beurteilung der Geschehnisse dieser Welt weit überschreitet. Die Logotherapie vermittelt somit Hoffnung, durch ihr dreidimensionales Menschenbild. Wo das Psychophysikum (Leib und Psyche) an seine Grenzen stösst, eröffnet sich dem Leidenden ein weiterer, dritter Hoffnungsraum in der geistigen Dimension, wobei das Geistigsein des Menschen nicht einfach gleichzusetzen ist mit Intelligenz. Es ist eine potenzielle Fähigkeit oder Eigenschaft des Menschen, zu unterscheiden, zu werten, zu wählen, zu entscheiden und zu verantworten. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt der Volksmund. Eigentlich stirbt sie überhaupt nicht, sofern das Leben in sinnzentrierter Sicht gelebt wird.

 

Karin Zysset

Karin Zysset

Die Psychologin Karin Zysset arbeitet am Institut für Logotherapie und Existenzanalyse in Chur