Zwischen «Mainstream» und «Subkultur»

17. Sonntag im Jahreskreis: Kol 2,12–14 (Gen 18,20–32; Lk 11,1–13)

Ein multireligiöses Umfeld kann zu Verunsicherung und Orientierungslosigkeit führen. Das trifft nicht nur auf heutige Christinnen und Christen zu, deren Lebenskontext zunehmend von nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen geprägt sind, sondern auch auf die junge christliche Gemeinde in Kolossae. Der Verfasser des Kolosserbriefes spricht den verunsicherten Mitgliedern der kleinen Gemeinde Mut zu und bestärkt sie in ihrem Glauben und in ihren religiösen Praktiken. In dieser «Mut- und Festigungsrede» des zweiten Kapitels fallen Begriffe, die auch in jüngster Zeit die Gemüter wieder erhitzen, etwa die Beschneidung (Kol 2,11.13). Im zweiten Kapitel des Kolosserbriefes geht es demnach nicht nur um Festigung und Mut, sondern auch um Fragen nach Identität, Zugehörigkeit und Abgrenzung, nach gemeinschaftsstiftenden «Identity Markers» – Fragen, die ihre Relevanz nicht verloren haben!

Der Kolosserbrief im jüdischen Kontext

Die Verse 2,12–14 des Kolosserbriefes sind nicht isoliert zu lesen, sondern bilden zusammen mit dem übrigen zweiten Kapitel einen eigenen Abschnitt. Der Höhepunkt dieser «Mutrede» ist die Gewissheit, dass die Mitglieder der christlichen Gemeinde bereits jetzt durch die Taufe Anteil an der Auferstehung und an der Fülle des ewigen Lebens haben: «Und euch, die ihr tot wart in den Vergehungen und in dem Unbeschnittensein eures Fleisches, hat er mit lebendig gemacht mit ihm» (Kol 2,13). Die Auferstehung der Getauften ist also bereits geschehen, sie ist kein zukünftig erwartetes Ereignis mehr. Diese Aussage im Kolosserbrief steht in einer gewissen Spannung zu anderen Stellen im paulinischen Schrifttum, wo die Auferstehung noch erwartet wird (Röm 6,3–5)! Sie bietet der christlichen Gemeinde Orientierung und innere Sicherheit in einem von vielfältigen und wohl auch attraktiven Weltanschauungen geprägten Umfeld. Das zentrale Ereignis ist dabei die Taufe, welche die Existenz der getauften Männer und Frauen grundlegend verändert. Und um die Bedeutung dieser Taufe, dieses Herzstückes des christlichen Lebens, fassbar zu machen, zieht Paulus das Bilde der – bereits in der vorchristlichen Antike umstrittenen – Beschneidung heran.

Die Beschneidung ist bekanntlich zunächst ein Zeichen des Bundes zwischen Gott und Seinem Volk (Gen 17). Spätestens seit dem babylonischen Exil wird die Beschneidung zusätzlich zu einem Symbol der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, zu einem typischen «Identity Marker». Und so überrascht es nicht, dass es auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus im zweiten vorchristlichen Jahrhundert reformwillige Juden gab, die versuchten, die Beschneidung rückgängig zu machen, um ganz und gar «dazuzugehören» (1 Makk 1,15), während andere unbeschnittene jüdische Kinder gewaltsam beschnitten wurden, um dieses spezielle Zeichen der eigenen Identität zu bewahren (1 Makk 2,46). Bereits in der hebräischen Bibel sowie in zahlreichen frühjüdischen Schriften wird auch von einer Beschneidung im übertragenen Sinne gesprochen, von einer «Beschneidung des Herzens» (Lev 26,41) oder einer «Beschneidung der Lippen» (Ex 6,12.30 oder Qumranschriften: 1QS 5,5; 1QH 18,29). Früh schon erhält auch das Blut der Beschneidung eine sühnende Wirkung: So wird es in einem rabbinischen Kommentar zum Buch Exodus mit dem sühnenden Blut des Pessach-Opfers verglichen (ShemR 19,6). Damit sind bereits zentrale Punkte der paulinischen Beschneidungstheologie abgesteckt: Diese greift in ihren wesentlichen Aussagen auf jüdische Konzepte zurück.

Auf dem eben skizzierten Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Beschneidung für Paulus ein wichtiges Thema ist: Die Beschneidung ist sozusagen das Exempel, an dem sich die Spannung von Paulus’ Vision einer universalen Botschaft und seiner jüdischen Herkunft zeigt. Leider hat die christliche Wirkungsgeschichte die durchaus komplexe paulinische Auseinandersetzung mit der Beschneidung verkürzt.

Diese bereits zu Paulus’ Zeit umstrittene Beschneidung wird nun im Kolosserbrief herangezogen, um die Bedeutung der Taufe zu erläutern: «In ihm [= Jesus] habt ihr eine Beschneidung empfangen, die nicht von Händen gemacht ist, nämlich die Beschneidung, die Christus gegeben hat» (Kol 2,11). Diese Beschneidung wird dadurch, dass sie «nicht von Händen gemacht» ist, zu einer besonderen Beschneidung. «Mit Händen gemacht » sind in der hebräischen Bibel Götzen, deren Anbetung verboten ist (Lev 26,1). Dinge sind nicht schlecht, weil sie «von Händen gemacht» sind, sondern weil ihnen eine Bedeutung beigemessen wird, die ihnen nicht zukommt. Die Götzen sind schlecht, weil man sie anbetet, d. h. weil man in ihnen nicht mehr das behauene Stück Holz oder Stein sieht, das sie sind. Die Beschneidung ist nicht per se schlecht, weil sie von Hand ausgeführt wird, sondern weil ihr eine nicht angemessene Funktion und Bedeutung zugeschrieben werden kann. Für Paulus war eine solche «rote Linie» überschritten, wenn durch die Beschneidung ein Eintritt (von Nichtjuden) ins Christentum verunmöglicht wurde (Gal 5,6; 6,15). Ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass die von Hand ausgeführte (jüdische) Beschneidung im Kolosserbrief nicht einfach schlecht ist, besteht darin, dass das Gegenstück zur «Beschneidung, die nicht von Hand gemacht ist», die Unbeschnittenheit ist: «Ihr wart tot infolge eurer Sünden, und euer Leib war unbeschnitten» (Kol 2,13). Nicht die von Juden praktizierte Beschneidung ist hier also der Gegensatz zur «Beschneidung in Christus», sondern die Abwesenheit von Beschneidung! Paulus bzw. der Verfasser des Kolosserbriefes bedienen sich durch und durch jüdischer Terminologie, um das alles entscheidende Ereignis der Taufe zu beschreiben. Dabei wird die jüdische Beschneidung durch die Interpretation im Kolosserbrief aber nicht einfach überholt, wie dies christliche Auslegungen oft behauptet haben, sondern wohl eher ergänzt. Die universale Botschaft der Taufe kann nicht gegen die jüdische (und muslimische?) Beschneidung ausgespielt werden.

 

Heute mit dem Verfasser des Kolosserbriefes im Gespräch

Die Gemeinde von Kolossae gehört wahrscheinlich schon der «dritten Generation» nach Jesus an. Die Gemeinde selber ist zwar gut organisiert und zuversichtlich (Kol 2,5), doch hat sie auch mit Unsicherheiten zu kämpfen. Um die Gemeinde zu stärken, wählt der Verfasser das Bild der bereits erfolgten Auferstehung. Er tut dies trotz der zunehmenden räumlichen und zeitlichen Distanz zu Jesus (und Paulus) in Vorstellungen und Bildern, die dem Judentum entnommen sind. Diese Selbstverständlichkeit, dass das Christentum im Judentum wurzelt, ist uns heute abhandengekommen und damit einhergehend auch ein gewisses Verständnis für Menschen, die diesem christlichen (und abendländischen?) Universalismus nicht überall folgen wollen.

Was wäre nun aber, wenn man die Gewissheit der bereits erfolgten Erlösung aus dem Kolosserbrief nicht so sehr als tröstende Vergewisserung, sondern als Aufgabe verstehen würde, nämlich als Aufforderung, das Leben in der Gemeinde so zu gestalten, dass in ihm die Fülle der göttlichen Schöpferkraft spürbar wird? Dazu gehört auch – das zeigt unsere Passage eindrücklich – eine Anerkennung des anderen in seiner Eigenheit. 

 

 

Simone Rosenkranz

Simone Rosenkranz

Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachreferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig