Wo Gott wirkt

4. Fastensonntag: (1 Sam 16,1b.6–7.10–13b; Eph 5,8–14) Joh 9,1–41 oder 9,1.6–9.13–17.34–38.

An einem Blindgeborenen soll gemäss Jesu Worten in Joh 9,3 das Wirken Gottes offenbar werden. Was geschieht da genau? Und wie zeigt sich dieses Wirken heute, in unserer Welt, deren Wirtschaft zahlreiche Menschen erdrückt?

Der Blindgeborene

Joseph Wresinski (1917–1988) hat im Zusammenleben mit Familien, die aufgrund ihrer Armut in Gesellschaft und Kirche diskriminiert wurden, eine Spiritualität entwickelt, die für Menschen mit oder ohne katholischen Hintergrund zugänglich ist, weil sie Gottes Wirken in den Realitäten dieser Welt aufspürt. Wenn Père Joseph die Bibel liest, dann verschmelzen die Zeitebenen. In der Betrachtung des Evangeliums erscheinen heutige Situationen und Menschen in einem neuen Licht. Was die Bibel «das Wirken Gottes» nennt, wird konkret. Ich werde einige Ausschnitte aus seinen Überlegungen zum Bibeltext wiedergeben und auf diesem Hintergrund dessen Botschaft für heute zu verstehen versuchen.

«Dieser Blindgeborene ist beinahe ein Totgeborener: Nicht mit ihm, sondern über ihn wird diskutiert. Ist er sündig oder unschuldig? Er ist nicht einmal fähig zu antworten. Würde er seinen Mund öffnen, dann würden seine Worte sicher durcheinander geraten, wie ich es so oft miterlebt habe, wenn ungeschulte Menschen sich zu Unrecht angeklagt fühlten. Ich denke an einen Familienvater, der Mühe hatte, seine Aussagen klar zu formulieren. Er sagte zu mir: ‹Was wollen Sie? Jedermann hält mich für einen Idioten. Da bleibt mir nur noch übrig, mich auf alle Viere niederzulassen und zu bellen. Sie sagen, ich sei für meine Kinder ein schlechter Vater, und ich kann ihnen nicht einmal antworten.›»1

Das Wirken Gottes

Das Wirken Gottes offenbar zu machen, das heisst für Père Joseph, gerade diesen Vater als Partner und als Weggefährten zu nehmen, um eine Art des Zusammenlebens zu entwickeln, bei dem jede Familie und jede einzelne Person in ihrer Würde und in ihrer Freiheit anerkannt wird und über die notwendigen Mittel verfügt, um zum Gemeinwohl beizutragen. Eine solche Verbundenheit mit den Übergangenen und Ausgegrenzten lässt Einrichtungen, Gewohnheiten und Denkweisen, die als normal und unabänderlich gelten, in einem neuen Licht erscheinen – heute wie schon in biblischer Zeit.

«Die Wortwechsel und Handlungen zwischen Jesus und den Ärmsten sind immer einmalig, völlig persönlich und zugleich symbolisch. Sie hinterfragen eine ganze Situation, die – oft im Namen Gottes – um sie herum geschaffen wurde. Denn im Namen Gottes wird der Blindgeborene gezwungen, sich in der Umgebung des Tempels aufzuhalten, und kann nicht frei eintreten wie die Gesunden. Im Namen Gottes wird die Welt der Armen reglementiert, wird der Platz der Behinderten und Kranken in der Gemeinschaft und im Tempel bestimmt und werden mittellose Behinderte und Kranke dem Elend ausgeliefert. Und durch jede seiner Handlungen bezieht Jesus Stellung, wirft eine Regel um und stellt nicht nur die Ehre eines Menschen wieder her, sondern Gerechtigkeit für die Ärmsten. Jedes Mal verkündet er die Freiheit aller Kinder Gottes, seien sie auch noch so arm. Bald laut und öffentlich, bald nur vor seinen Jüngern, sozusagen im Familienkreis, verkündet er die Wahrheit: dass Gott uns liebt und dass das Los unserer Brüder und Schwestern für uns selbst genauso wichtig ist wie unser eigenes Schicksal.»

Freiheit ist etwas, das wir den Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, nur schwerlich zugestehen. Die Reaktion der Pharisäer auf die Heilung des Blindgeborenen unterscheidet sich nicht so sehr von heutigen Reaktionen, wenn ein Mensch, der Leistungen der Sozialversicherungen oder Sozialhilfe bezieht, selbst etwas zustande bringt oder einfach Glück hat. Ein solcher Mensch stösst auf Misstrauen und muss sich noch rechtfertigen für das Gute, das ihm widerfährt.

Die Heilung als Unglück

«Es ist irgendwie jämmerlich und für unsere ganze Menschheit beschämend, wie diesem Mann, der allen Anlass zum Feiern gäbe, übel mitgespielt wird. Die Pharisäer rufen ihn nochmals zurück und machen aus seiner Heilung nach und nach ein wahres Unglück für ihn. ‹Was hat er getan? Wie hat er dir die Augen geöffnet?› Dieser Mann, den es plötzlich in die Welt der Sehenden verschlagen hat, blickt auf die angespannten Gesichter ringsum. Niemandem kommt es in den Sinn, diesen Tag seiner wundersamen Heilung zu loben. Wie hat er nur standgehalten? ‹Ich habe es euch bereits gesagt, aber ihr habt nicht gehört.› Ironisch und gleichzeitig naiv fügt er hinzu: ‹Wollt auch ihr seine Jünger werden?› Seine Antwort an diejenigen, die ihn mit dem Hinweis ‹Wir wissen nicht, woher er kommt› vor Jesus warnen, ist ausserordentlich. (…) ‹Seht, was all eure Theorien wert sind!›, erwidert er im Wesentlichen. ‹Ich weiss nur eines: Ich war blind, und jetzt sehe ich.›»

Bei einem Treffen im Schweizerischen Zentrum von ATD Vierte Welt hat mich ein junger Mann durch seine klare Analyse beeindruckt. Er war als Schulkind gegen den Willen seiner Eltern in einem Heim untergebracht worden. Dadurch hatte er materiell ein besseres Leben als die Geschwister, die in der Familie blieben. Heute steht er ohne Ausbildung da und bezieht Invalidenrente. Er sagte: «Das Heim ist ein Ort, wo es wirklich Gemeinschaft gibt. Da ist es nicht einfach, sich bewusst zu werden, dass es wie ein Gefängnis ist.»

Welche Perspektiven?

Welche Perspektiven gibt es für diesen jungen Mann, in einer Zeit, wo bezahlte Arbeit knapp wird? Eine Ausbildung und ein Arbeitsplatz sind wesentliche Voraussetzung für den Zugang zu anderen Rechten und Freiheiten. Christian lebt und arbeitet heute in einer Einrichtung für Behinderte. Sein Kollege Lukas, dessen berufliche Träume ebenfalls früh zerschlagen worden sind, hat ihn dort besucht. Er war schockiert: «Ich verstehe nicht, warum er in diesem Heim ist. Ich habe ihm gesagt: du bist intelligent, du bist nicht blöd.»

Niemand weiss, wie eine Wirtschaft aussieht, in der jeder Mensch in seiner Würde, seinen Fähigkeiten und seiner Freiheit geachtet wird. Aber wir werden eine solche Wirtschaft nicht ohne Christian und Lukas entwickeln können. In dieser gemeinsamen Suche kann Gottes Wirken in unserer Welt offenbar werden.

 

1 Die Zitate stammen aus Père Joseph Wresinski: Selig ihr Armen. Münster 2005, 131–140. Das Buch ist im Buchhandel nicht mehr erhältlich. Es kann bezogen werden bei: ATD Vierte Welt, 1733 Treyvaux.

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.