«Wir erleben eine römische Zeitenwende»

Interview mit Leo Karrer

Am 13. März 2013 trat ein weitgehend unbekannter Kardinal auf den Balkon des Vatikans und begrüsste die Menschen auf dem Petersplatz mit einem schlichten «Buona sera». Aus Jorge Bergoglio wurde Papst Franziskus. Der Argentinier hat in seinem ersten Amtsjahr viel bewegt.

Vera Rüttimann: Wie reagierten Sie, als der Argentinier Jorge Bergoglio vor einem Jahr den Stuhl Petri bestiegen hat?

Leo Karrer: Als dieser Mann mit seiner schlichten päpstlichen Kleidung auf dem Balkon erschien und sich vor den Leuten verbeugte und um ihren Segen bat, bevor er selbst den Segen erteilte, gewann er sofort meine Sympathie. Mit dieser Geste zeigte er schon im ersten Moment, dass er von der Rolle eines vom Volk abgehobenen Kirchenfürsten Abschied nehmen will. Sein «Buona sera» fand ich ungemein menschlich. Sein Aufritt auf dem Balkon hatte etwas Befreiendes und liess schon etwas von seinem ganzen Programm erahnen.

War Ihnen in diesem Moment klar, dass diese Szene einen Kurswechsel für die katholische Kirche einläuten würde?

Dieser Wahl ging eine zweiwöchige Diskussion voraus, seit Papst Benedikt XVI. zurückgetreten war. Das war ja ein Novum. Zudem hatten selbst gewisse Kreise in Rom erkannt: So kann es mit dieser Kirche nicht weitergehen. Bergoglio muss dann auch eine Ansprache gehalten haben, in der er forderte, dass diese Verschliessung der Kirche nach innen und ihre Konzentration auf das klerikal-patriarchale System aufgebrochen werden müssen. Er wünschte sich eine Kirche, die hin zu den Rändern der Welt geht, in Tuchfühlung mit der Realität der Menschen. Diese Tendenz konnte man ahnen, aber meine Phantasie ging damals noch nicht weit genug, wie sie jetzt schon genährt wurde durch das Geschehen in den letzten zwölf Monaten. Wir erleben eine römische Zeitenwende.

Zu seinen Generalaudienzen und zum Angelus-Gebet auf dem Petersplatz kommen dreimal mehr Menschen als unter Vorgänger Benedikt XVI. Er ist ein Popstar. Haben Sie das für möglich gehalten?

Nein. Die Phantasie des Lebens ist viel grösser und weiter, als ich es je hätte ausdenken können. Ich finde es grossartig, dass seine Person und seine Stimme solch ein weltweites Echo finden. Nicht nur in kirchlichen Kreisen. Bergoglio erinnert mich an Papst Johannes XXIII.

Seine Art begeistert Kirchen-Kenner und -Kritiker gleichermassen. Was macht Jorge Bergoglio als Mensch so faszinierend?

Er wäscht Armen die Füsse, predigt in den Favelas und streicht einem Mann über sein vernarbtes Gesicht. Für ihn stehen die Menschen und ihre jeweiligen Lebensumstände im Mittelpunkt. Eine deutliche Akzentverschiebung auch im Sinne des Evangeliums. Alles kommt bei ihm nicht wie bei seinen Vorgängern oft moralisierend und dogmatisch daher, sondern aus einer tiefen Freude an Gott. Sein Satz «Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, lieber als eine, die wegen ihrer Verschlossenheit und Bequemlichkeit krank ist» inspiriert mich sehr. Franziskus will eine Kirche des Dialogs, der menschlichen Wärme und der Zuwendung. Für mich ist dieser Papst ein ungeheurer Realitäts- und Basisgewinn für die Kirche. Oder, um es mit den Worten des Wiener Kardinals Christoph Schönborn zu sagen: ein «Schock der Authentizität».

«Geld soll dienen und darf nicht regieren», sagt Jorge Bergoglio. Dieser Papst erstaunt mit politisch mutigen Aussagen.

Seine Reise nach Lampedusa war ein starkes Zeichen. Damit setzte er in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit rasch ein Signal. Mit «Evangelii Gaudium », seiner Regierungserklärung, in der er auch mit einer rücksichtslosen Wirtschaft abrechnet, zeigte er sich als eine prophetische Stimme gegen eine Tendenz, in der sich die Wirtschaft an der Hegemonie des Finanzkapitals orientiert und nicht am Wohl der Menschen. Hier drückt auch sein biographischer Hintergrund als ehemaliger Erzbischof von Buenos Aires durch, der weiss, wie es in Slums aussieht.

Seit seiner Wahl zum Papst will Franziskus frischen Wind in die starr gewordene katholische Kirche bringen. Ihnen war die Kurienreform stets ein Anliegen. Wie weit ist er damit?

Bergoglio ist kein Papst, der symbolhafte Gesten für die Medien produziert. Er hat eine Kommission von acht Kardinälen eingesetzt, die die Kurienreform vorantreiben soll. Wichtig ist meiner Meinung nach auch die Neuregelung des Finanzgebarens des Vatikans. Der Erfolg dieser Aktion ist noch offen. Aber Bergoglio ist durchaus ein strategischer Jesuit, den man nicht unterschätzen sollte. Er ist ernsthaft gewillt, die Kirche an Haupt und Gliedern zu reformieren.

Der 266. Papst hat Sympathien bei vielen geweckt, die zuletzt zermürbt waren von immer neuen Missbrauchsskandalen. Welche Auswirkungen hat Bergoglios lebensnaher Stil auf die Stimmung an der Kirchenbasis?

Zuallererst hat sich die Grundstimmung bei vielen kirchlich Engagierten verändert. Sie hat sich in den letzten zwölf Monaten merklich aufgehellt. Viele, die innerlich bereits emigriert sind und deren Kraft zum Langstreckenlauf ermüdete, sind wieder aktiver geworden. Das merke ich ganz deutlich auch bei den Veranstaltungen des «Forums für eine offene Katholizität » im Romero-Haus. Nach den Jahren, in denen sowohl innerkirchlich als auch in den Medien Themen wie die Missbrauchsfälle, interkonfessionelle Konflikte oder «Vatileaks» dominierten, verspürt man fast schon einen Abschied von jener Zeit, in der oftmals eine depressive Stimmung vorherrschte. Nun spürt man ein Gefühl der Befreiung und des Aufbruchs. Als hätte ein Regen den Mehltau abgewaschen, der sich über die katholische Kirche gelegt hat.

Als ob etwas aufgebrochen wäre …

Ja, etwas ist auf- und durchgebrochen. Aus einer Kirche heraus, die über eine lange Zeit in einem klerikal-patriarchalen System erstarrt war. Aus einer Kirche, die die gesellschaftlich und kirchlich heissen Eisen nicht offen angesprochen, sondern tabuisiert hat und in der vielerorts nur system-loyale Bischöfe angestellt wurden und nicht menschlich-qualifizierte Kräfte. Dabei hat diese weltweite Kirche so viele Engagierte mit prophetischer Wut und Glut!

«Es macht wieder mehr Spass, ein Katholik zu sein», sagt der Tübinger Theologieprofessor Hermann Häring. Geht es auch Ihnen so?

Diese Aussage kann ich unterstreichen. Aber ich möchte meine Freude an der Kirche letztlich nicht abhängig machen von einem Papst. Es kommt mir darauf an, den Anliegen treu zu bleiben, auch wenn wir den Erfolg selber nicht garantieren können. Aber es ist schön, dass die einseitige Fokussierung auf die negativen Seiten der Kirche durch ein anderes Bild korrigiert wird. Nicht zuletzt aber hat dieses erste Jahr Papst Franziskus gezeigt: Die katholische Kirche ist bis in die Territorialstruktur der Pfarreien eine weltweite Vernetzung mit 1,2 Milliarden Mitgliedern. Da ist eine enorme Weite drin! Wir wären dumm, wenn wir uns aus dieser weltweiten Solidargemeinschaft und dynamischen Interpretations-Gemeinschaft des Glaubens mit ihren seelischen und spirituellen Kräften ausklinken würden.

Bergoglio sagt: Die römische Kurie soll kein um sich selbst kreisendes Machtzentrum mehr sein. Welche Aus eiwirkungen hat dieser Kurs auf den höheren Klerus?

Papst Franziskus macht die konservativen und progressiven Kräfte verlegen, weil er erst einmal nicht auf systemverändernde Massnahmen setzt, aber kirchliche Strukturen dennoch raffiniert in Frage stellt, indem er sie auf die spirituelle Tiefe hin hinterfragt. Wenn er beispielsweise die Bedeutung der Ortskirche hervorhebt und betont, dass Bischofskonferenzen selbständiger werden sollen, oder sagt, er sei zuerst Bischof von Rom, danach Papst. In «Evangelii Gaudium » verabschiedet er sich zudem von der einsamen Führungsrolle des Papstes. Auch, dass er in einem Zimmer im Gästehaus Santa Marta wohnt und nicht im Apostolischen Palast und kein protziges Auto fährt, hat eine starke Signalwirkung. In Deutschland hat seine Betonung auf eine «arme Kirche für die Armen » mit dem Konflikt um den Limburger Bischof Tebartz-van Elst ja bereits unmittelbare Auswirkung gehabt. Zudem dürften Sätze wie «Gott hat man nicht einfach, man muss ihn stets suchen und immer neu finden» auch kirchliche Würdenträger in Verlegenheit gebracht und nachdenklich gemacht. Die katholische Kirche ist so viel mehr, als uns systembeflissene Kirchensprecher manchmal nahelegen wollen.

Kritiker sagen, dass die Euphorie um Franziskus verpuffen könnte und sich die katholische Kirche in einer enttäuschten Leere wiederfindet, wenn nicht bald wirkliche Veränderungen erfolgen.

In der Tat gibt es viele Baustellen. Die heissen Eisen sind bekannt: der Umgang mit geschiedenen Wiederverheirateten und Homosexuellen, der Zölibat, Ordination der Frauen usw. Wohin die Kirche mit Bergoglio steuert, ist derzeit offen. Ich hoffe aber, dass er die Chancen hat, seine Ziele umzusetzen. Oder zumindest sein Nachfolger. Sonst machen wir eine ähnliche Erfahrung wie bei Papst Johannes XXIII., als nach dem Konzil Reformschritte auf sich warten liessen. Von zentraler Bedeutung ist für mich die Treue zum Anliegen. Auch wenn sich die Reformen verzögern und wir den Erfolg der eigenen Erwartungen nicht sofort selber ernten können, so sind wir berufen, zu säen. Das ist auch das Problem von progressiven Kräften, die enttäuscht sind, wenn ihre berechtigten Reformerwartungen nicht so schnell greifen. Auch wir können dann systemfixiert reagieren. Wir erwarten vom kirchlichen System, dass es sich ändert. Der primäre Schritt sollte jedoch sein, dass wir uns selber verändern, uns treu bleiben und miteinander im spirituellen Anliegen unterwegs sind. Es kommt zuerst auf uns selber an, dass wir selber gehen – aber nicht alleine und einander nicht allein lassend. Sonst ändern wir nur das System und wir uns selber nicht. Bischof Markus Büchel sagte unlängst: Der Papst hat uns Beine gemacht. Für mich heisst das: Den Weg gehen muss jeder von uns selber. Auch in einem reformbedürftigen System gibt es eine richtige Praxis, und dafür sind wir an der Basis zu einem bestimmten Anteil selber verantwortlich.

Sie wünschen sich auch eine stärkere Solidarisierung kirchlicher Kräfte untereinander.

Richtig! Katholischer Frauenbund, Tagsatzung und katholische Dialoge sowie das Sozialinstitut in Zürich usw. Das sind alles Plattformen, die nicht zuerst Opposition erzeugen, sondern Solidaritätsforen sein wollen, um aneinander zu zeigen: Du bist nicht allein mit deinen Kirchenträumen! Ein Apell an gelebte «Communio». Nur so können wir aneinander auch zum Wein der Lebensfreude und zum Brot der Lebenskraft werden. Es braucht eine Vernetzung über Pfarreien und Sprachregionen hinaus. Wir brauchen eine Doppelstrategie: Im überschaubarem Raum muss die Kirche für den einzelnen Menschen erreichbar und kritischprophetisch in der Gesellschaft präsent sein. Für Letzteres haben wir in der Kirche Schweiz zu wenige Instrumente. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, damit die Kirche gegen aussen stärker auftreten kann. In einer immer beschleunigteren und singularisierteren Welt, die zu einer Subjekterschöpfung führt, wäre die Kirche als Stimme sehr gefragt. Als Frühwarmsystem in der Welt mit ihren menschlichen Nöten und als Leuchtturm für Orientierung und Solidarisierung. Nach Kirche und religiöser Werteorientierung könnte schneller gerufen werden, als wir denken.

Das Interview mit Leo Karrer führte Vera Rüttimann.

 

Vera Rüttimann

Vera Rüttimann, Berlin, ist seit 1995 hauptberuflich als Fotojournalistin für deutsche und Schweizer Print-Medien tätig. Ein Schwerpunkt sind Berichte zum Thema Religion und Gesellschaft.