Von der Praxisrelevanz einer «Mystik der offenen Augen»

Uebergangenes

Der Fotozyklus «Übergangenes / En Passant» von Manfred Koch zeigt Momentaufnahmen1 von verwitternden Zebrastreifen in Paris. Risse und Striche im Beton formen sich durch die poetische Sensibilität des Fotokünstlers zu menschenähnlichen Wesen mit einer je eigenen Lebendigkeit. Was von vielen tagtäglich achtlos «übergangen» wird, findet – durch den künstlerischen Blick zum Leben gebracht – plötzliche Aufmerksamkeit. Koch selbst nennt seine Fotokunst eine «Schule des Sehens». Mit ihr will er vermeintlich normale und normierte Seh- und Sichtweisen von Menschen durchbrechen und sie für einen offeneren Blick sensibilisieren, der mitten im Alltäglichen aufmerken und bisher Ungeahntes finden lässt – auch wenn dies vieldeutig, vage und offen bleibt.

Die «Mystik der offenen Augen» Jesu und ihre Praxisrelevanz

Was Künstlerinnen und Künstlern wie Manfred Koch als Begabung eigen ist, nennt Johann Baptist Metz in seinem «Compassioneprojekt » den «kategorischen Imperativ» der jesuanischen Mystik: Jesus lehrt keine Mystik der geschlossenen, sondern eine Mystik der offenen Augen.

Diese «Mystik der offenen Augen» ist nicht nur in Bezug auf die Frage der Leidempfindlichkeit von hoher Praxisrelevanz für Kirche und Gesellschaft (wie dies Metz immer wieder einfordert), sie wird darüber hinaus zur Gretchenfrage kirchlichen Wahrnehmungspotentials im Ganzen, nämlich: «Nun sag, wie hältst du’s mit der Mystik der offenen Augen?»

Praktisch-theologisch betrachtet ist das «Sehen» nicht nur ein Teil, sondern der Ausgangspunkt des methodischen Dreischritts «Sehen – Urteilen – Handeln», der immer wieder neu um eine menschenbefreiende Orthopraxie im Geiste und Sinne Jesu ringt. So wichtig dieser methodische Dreischritt für die Praxis der Kirche war und ist – er bewahrt nicht vor Kurzsichtigkeit und Blindheit. Denn das Sehen kann sich – bewusst oder unbewusst – von der trügerischen Kraft «potemkinscher Kulissen» blenden lassen, die wir allzu gerne errichten, um uns im Urteilen zu beruhigen und im Handeln zu entlasten.

Dagegen stellt sich die jesuanische «Mystik der offenen Augen» immer wieder quer. Sie will zur deutungsdurchgreifenden Ideologiekritik solcher pastoraler Wahrnehmungspotentiale werden, die nicht die Sensibilität verlieren, «die Welt mit den Augen Gottes zu betrachten» (Claudia Janssen) und so eine handlungsleitende Aufmerksamkeit generieren können, die keinen und nichts aus dem Blickfeld verliert, versehentlich oder bewusst übergeht, von vornherein abqualifiziert oder ganz und gar abschreibt.

Die «Mystik der offenen Augen» als gelebte Ideologiekritik

Vielleicht liegt die ideologiekritische Praxisrelevanz einer «Mystik der offenen Augen» gerade darin, eher eine Grundhaltung des Findens als eine des Suchens einzunehmen, ganz so, wie sie im Gleichnis vom «Kaufmann und der Perle» (vgl. 17. Sonntag) zum Ausdruck kommt. Denn im Gegensatz zum Suchen, das immer die Gefahr eines «Tunnelblicks » beinhaltet, bewahrt sich die Grundhaltung des Findens den offenen Blick für solche Überraschungseffekte, die uns wirkliche «Disclosure-Erfahrungen» (Wim A. de Pater) ermöglichen. D. h. Erfahrungen, in denen sich – in einer Art «Aha-Erlebnis» – unerwartete Erkenntnisse, Perspektiven und Reflexionshorizonte erschliessen (= disclosure) und (radikal) neue, bzw. ganz andere oder verschüttet geglaubte gegenwartsdurchgreifende Deute- und Handlungsperspektiven mit autoritativem Charakter eröffnen. Dem Anschein nach liegt also insbesondere in der Haltung des Findens auch das praktische Potential einer «Mystik der offenen Augen». Nämlich sich den aufmerksamen Blick für den täglich neuen Überraschungseffekt Gottes und der Menschen zu bewahren, gerade dann, wenn pastorale Deute- und Handlungsstrategien generiert werden sollen, deren Stossrichtungen den Menschen anzeigen wollen, dass Kirche von allen Menschen als «Lebensort für alle» (Herbert Haslinger) gefunden werden kann.

Dieser ideologiekritische Aspekt der «Mystik der offenen Augen» wird umso wichtiger, wenn man bedenkt, dass auf den unterschiedlichen Gestaltungsebenen unserer spätmodernen Gesellschaften immer mehr Gestaltungsträger sich mit fertigen Sichtweisen begegnen. Die Gefahr dabei ist, dass sich die ideologieunkritische Logik einer «Wenn-Dann-Kultur» (Ottmar Fuchs) Bahn bricht, die ein manchmal kompromissnotwendiges Mit- und bisweilen auch Nebeneinander unterschiedlicher Sichtweisen beoder gar verhindert. Infolgedessen erstirbt jegliche Dialogoffenheit, führen Denk- und Meinungsverschiedenheiten zu machtpolitischen Ränkespielen, die, nicht selten öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt, zum Teil subtile Formen der (bewussten) Inkaufnahme von Marginalisierungen und Kriminalisierungen von Menschen hervorrufen. Den Logiken dieser ideologieunkritischen Kultur folgend feiern karriere- und systemorientierte Tempelreinigungen, üble Nachrede, Denunziation und Neo-Chauvinismen fröhlich Urständ, die selbst dann kein Ende finden, wenn die Würde des Anderen längst schon im Staub liegt. Im Kontext solcher ideologieunkritischer Kulturen verkommt eine «Mystik offener Augen» zum ideologisch hypnotisierten Schauspiel, das Menschen mit Generalverdächtigungen brandmarkt, sie in «Weizen» und «Unkraut» (vgl. 16. Sonntag) einteilt und der Beliebigkeit selbsternannter «Erntehelfer» preisgibt.

Die «Mystik offener Augen» als gelebte Pastoralgnade

Es geht hier um keine «theologische Schwarzmalerei » (Paul Zulehner), wohl aber um eine ideologiekritische Zuspitzung der Praxisrelevanz einer «Mystik offener Augen». Denn an der praktischen Faktizität und faktischen Praktikabilität ihrer Aufmerksamkeit wird sich die Praxis der Kirche messen lassen müssen, ob und inwiefern sie die jesuanisch verifizierbare und christologisch verbürgte Durchsichtigkeit der Gnade Gottes in ihrer Pastoralgnade (Ottmar Fuchs) zur Geltung bringt. Damit ist eine Pastoralgnade gemeint, deren ideologieunkritische Sensibilität solche pastoralen Begegnungsmöglichkeiten und Ermöglichungsräume zu realisieren hilft, in denen kein Mensch das Gefühl des Übergangenwerdens erfahren und gar «hungrig» nach Hause gehen muss (vgl. 18. Sonntag), sondern in denen er Gott als sein Gegenüber finden darf, für den kein Mensch belanglos ist, sondern dem seine ganze Aufmerksamkeit gilt.

Im Kontext dieser Pastoralgnade erweist sich für die Praxisrelevanz einer «Mystik der offenen Augen» durchaus eine Empfehlung Friedrich Rückerts für bedenkenswert, der meint: «Aufmerksamkeit, mein Sohn, ist, was ich dir empfehle; bei dem, wobei du bist, zu sein mit ganzer Seele.»

1 http://www.manfred-koch-fotografie.de/galerie_uebergangenes3.html

Salvatore Loiero

Salvatore Loiero

Dr. theol. habil. Salvatore Loiero ist Professor des deutschsprachigen Lehrstuhls für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.