«Unsere Hoffnung»

Von der subversiven Kraft der Apokalypse*

Wer heute von der subversiven Kraft der Apokalyptik reden möchte, muss zuallererst den banalen Missbrauch apokalyptischen Vokabulars unserer Zeit entlarven. Denn "die tödliche Krankheit der christlichen Religion ist nicht etwa Naivität, sondern – Banalität".1 Als Beispiel des hier Gemeinten möge ein Zitat aus der "Neuen Zürcher Zeitung" dienen. Unter der Überschrift "Postapokalyptische Entspannung in Berlin" stand neulich in den Sportnachrichten zu lesen: "‹Weltuntergangsstimmung› hatten noch vor wenigen Wochen kritische Beobachter des Fussballklubs Hertha BSC konstatiert, und tatsächlich schlingerte der ambitiöse Aufsteiger mit jedem Match einer drohenden Apokalypse entgegen." Wir würden alle bestimmt viel ruhiger schlafen, wenn die "drohende Apokalypse" unserer Zeit schlimmstenfalls im Abstieg in die zweite Liga bestünde! Man könnte noch unzählige Beispiele für die angezeigte apokalyptische Banalität heranziehen. So war etwa das meistzitierte Wort im Luther-Jahr "dasjenige vom Baum, den der Reformator am Vorabend des Weltuntergangs gepflanzt haben wollte". Entgegen Luthers Absicht wurde es offenbar "als Alibi für business as usual"2 verstanden. Es gehört zur Signatur der Postmoderne, sich in den banalsten Zusammenhängen einer pseudoreligiösen Sprache zu bedienen. Der religiöse Diskurs läuft unter solchen Umständen Gefahr, zu einem unterhaltsamen sinnentleerten Sujet für die medialen Salons des Fin de siècle zu werden. Man redet wieder einmal "gebildet" über Religion, während man zugleich verächtlich auf diejenigen hinunterblickt, die sich freiwillig einem konkreten religiösen Lebensvollzug unterwerfen. Doch wenn die Religionen etwas sein wollen, dann eben sinnvolle "Lebenswege" zwischen Wiege und Bahre und nicht Metaphysikersatz für die Gebildeten.

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An Lehrbüchern zur "Eschatologie" aus der Hand grosser Theologen ist die nachkonziliare Zeit nicht arm. Doch haben sie offenbar nicht vermocht, "Gerichtsbewusstsein" unter den Christen zu wecken, obwohl 1975 das Dokument "Unsere Hoffnung" der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland die "Erwartung des endzeitlichen Gerichts Gottes über unsere Welt und ihre Geschichte, wenn der Menschensohn wiederkommt", als unverzichtbaren Bestandteil "christlicher Hoffnung" sprachmächtig in Erinnerung brachte.3

Gilbert Greshake konnte 1983 allgemein festhalten, "dass die Grössen (…) Strafe, Sühne, Gericht, Hölle im gegenwärtigen Glaubensverständnis und in der derzeitigen Verkündigung keinen hohen Kurswert haben".4 Auch für die theologische Ethik ist nachdenklich angemerkt worden, das Gerichtsthema spiele in ihr kaum mehr eine Rolle.5 Andere Autoren sehen in der Tilgung der "Erinnerung an eine reiche Tradition der kirchlichen Sanktions- und Vergeltungs-Frömmigkeit" aus den Predigten und Christenlehren sowie aus den für den Religionsunterricht zugelassenen Lehr- und Lernbehelfen eher eine fragliche Verdrängung des Gerichtsbewusstseins denn eine sinnvolle Reform.

Unterdessen scheinen der "zornige" Gott und das "Gerichtsbewusstsein" wieder gefragt zu sein. Exegeten und Systematiker warnen eindringlich davor, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott Jesu, als einen "bloss humanen" darzustellen, weil dies etwa unseren modernen Wunschvorstellungen eher entspräche. Religionssoziologen und Therapeuten beklagen die zweifelhafte "Zivilisierung Gottes" bzw. die "Halbierung des Gottesbildes" auf die hellen und guten Seiten, die seit der Aufklärung prozesshaft stattgefunden hat. Gotthard Fuchs sieht im postmodernen "Gerichtsverlust " einen christlichen "Gesichtsverlust"; er plädiert mit Kierkegaard für die christliche Kunst, "sich recht ängstigen zu lernen" – auch die heilige Teresa von Avila, von der wir dieses Jahr den 500. Geburtstag feiern, sprach eindringlich von der recht verstandene "Gottesfurcht " als Bedingung für den geistlichen Fortschritt. Fuchs beklagt – wie die "Würzburger Synode" in den siebziger Jahren – die seit der Aufklärung schleichende Verbürgerlichung des Christentums durch Stilllegung der Eschatologie: Je mehr wir nämlich zulassen, dass – wie Reinhold Niebuhr vor dem Zweiten Weltkrieg bereits beklagte – "ein Gott ohne Zorn Menschen ohne Sünde in ein Reich ohne Gericht durch den Priesterdienst eines Christus ohne Kreuz brachte", desto irrelevanter werden wir für den Menschen und desto mehr werden fundamentalistische Kreise "rigoristisch das Entweder-oder des Christlichen einklagen".6

Gewiss, kaum ein anderes christliches Motiv als die Gerichtsbotschaft zeigt uns deutlicher, dass das Christentum Gefahr läuft, Nietzsches "Vorurteil" zu bestätigen, wonach es einerseits Platonismus für das Volk und andererseits Metaphysik für die Gebildeten sei. Andererseits war die Gerichtsbotschaft Christen in Bedrängnis eine Quelle subversiver Hoffnung wider alle Hoffnung auf den gerechten und barmherzigen Gott. Es gilt also, sich der Deformationen bewusst zu werden und dennoch zu einer positiven Rezeption der Gerichtsbotschaft in der Gegenwart zu ermutigen.

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Die Gerichtsbotschaft begegnet uns in der Christentumsgeschichte sowohl in der Vorstellung vom Jüngsten Gericht wie in der eines tausendjährigen Reichs des Glücks auf Erden.

Jüngstes Gericht

Die Vorstellung vom Jüngsten Gericht als Abschluss der Geschichte ohne ihre innergeschichtliche Vollendung in einem messianischen Zwischenreich ist theologisch daraufhin zu prüfen, ob sie nicht zur angsterzeugenden "Drohbotschaft", zu einer Jenseitsvertröstung, zu einer eskapistischen kirchlichen Sanktionierung des Status quo missbraucht wurde, statt befreiend zu wirken. Wir müssen uns mit dem Synodendokument "Unsere Hoffnung" fragen, ob wir die Gerichtsbotschaft in der Kirche nicht selbst zu oft verdunkelt haben, weil wir diese Botschaft zwar laut und eindringlich vor den Kleinen und Wehrlosen, aber häufig zu leise und halbherzig vor den Mächtigen dieser Erde verkündet haben. In der Gerichtsbotschaft ist nämlich der spezifisch christliche Gedanke von der Gleichheit aller Menschen ausgedrückt, "der nicht auf Gleichmacherei hinausläuft, sondern der die Gleichheit aller Menschen in ihrer praktischen Lebensverantwortung vor Gott hervorhebt, der aber auch allen, die Unrecht leiden, eine unverlierbare Hoffnung zusagt". So wird das Gerichtswort primär als "Tröstungs- und Ermutigungskraft" angesichts geschichtlicher Bedrängnis verstanden: "Es spricht von der gerechtigkeitsschaffenden Macht Gottes, davon, dass unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit stärker ist als der Tod, davon, dass nicht nur die Liebe, sondern auch die Gerechtigkeit stärker ist als der Tod." Und das zitierte Synodendokument schliesst die Betrachtungen über das Gericht mit einigen Fragen ab, die in der Christentumsgeschichte vielfach vermisst werden: Sollte etwa diese Gerichtsbotschaft "kein Wort unserer Hoffnung sein? Kein Wort, das uns freimacht, für diese Gerechtigkeit einzustehen, gelegen oder ungelegen? Kein Ansporn, der uns den Verhältnissen himmelschreiender Ungerechtigkeit widerstehen lässt? Kein Massstab, der uns jedes Paktieren mit Ungerechtigkeit verbietet und uns immer wieder zum Aufschrei gegen sie verpflichtet, wenn wir unsere Hoffnung nicht schmähen wollen?"7

Chiliasmus

Die Chiliasmustypologie ist vor allem in ihrer revolutionären Version durch die Spur der Gewalt diskreditiert, die sie gezeichnet hat. Der revolutionäre Chiliasmus übt aber weiterhin eine grosse Faszination aus, so dass einige in der Nachfolge Ernst Blochs immer noch nicht aufhören, die "Pseudopropheten einer untergegangenen Welt als Männer darzustellen, die ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus waren".8 Unter apokalyptischer Gewalt sollten wir aber auch die der "Rechtgläubigen" anprangern, die Kreuzheere aufboten und etwa "gegen Albigenser und Hussiten (…) Ausrottungskriege" führten, um Gottes Gericht an den "Gottlosen" schon in dieser Welt vorwegzunehmen.

Die wörtliche Bibelauslegung der revolutionären wie der adventistischen Chiliasten ist in der wissenschaftlichen Theologie durch die historischkritische Bibelforschung "weitgehend diskreditiert". Aber der Chiliasmus als eine Form des Messianischen ist in einem Punkt sehr modern und gegenüber der Typologie vom Jüngsten Gericht im Vorteil, nämlich im hartnäckigen Wachhalten der uralten Sehnsucht, dass diese Welt letztlich nicht nur ein Tal der Tränen bleiben und das Gelobte Land schon hier erreicht werden möge. Die chiliastische Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, "in denen Gerechtigkeit wohnt" (2 Petr 3,13; Jes 65,17), ist in säkularer Gestalt eine grosse Veränderungskraft der Geschichte geworden. Die heutigen politischen Theologien, die gegen die exzessiv jenseitige Orientierung eines Grossteils herkömmlicher Theologie die Hoffnung auf eine innergeschichtlich materiell erfahrbare Verwirklichung des Reiches Gottes aufrechterhalten, beerben somit den bleibenden messianischen Kern des Chiliasmus – sofern sie zugleich der revolutionären Versuchung entsagen, dass der Zweck die Mittel heilige.

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Ich möchte abschliessend nur noch zwei kurze Überlegungen folgen lassen zu Trost und Paränese als Zentraldialektik des biblischen apokalyptischen Corpus, das hauptsächlich als "Seelsorge an Geängstigten" verstanden werden sollte.9

Trost

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht nicht die "Erwartung des Weltendes, sondern der Glaube an die Heilsbedeutung Jesu von Nazareth".10 Daher ist das apokalyptische Corpus immer auch in Zusammenhang mit anderen zentraleren Aussagen des Neuen Testamentes zu interpretieren: etwa mit dem allgemeinen Heilswillen Gottes (1 Tim 2,4), mit dem Bild vom guten Hirten, der gekommen ist, damit alle "das Leben haben, und es in Fülle haben", nicht aber "um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten" (Joh 10,7–10), mit dem "Fürchtet euch nicht" (Mt 28,10) des Auferstandenen usw. Ein solcher Glaube befreit uns von der Weltangst und vermittelt uns "Zuversicht am Tag des Gerichts" (1 Joh 4,17). Aber auch unabhängig von diesen Aussagen enthält das einer Hermeneutik der Gefahr entspringende apokalyptische Corpus viele messianische Trostbilder, denn es spricht "vom grossen Frieden der Menschen und der Natur im Angesichte Gottes, von der Heimat und vom Vater, vom Reich der Freiheit, der Versöhnung und der Gerechtigkeit, von den abgewischten Tränen und vom Lachen der Kinder Gottes".11 Hölderlin wusste, was er sagte, als er in seinem nicht zufällig "Patmos" genannten Gedicht schrieb: "Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch."

Paränese

Aber christliche Apokalyptik will uns auch Mut machen zur echten "apokalyptischen Weltangst", denn sie enthält eine Botschaft vom Ernst unseres geschichtlichen Daseins angesichts befristeter Zeit, also eine Botschaft vom "Ende der Zeit". Selbst in den chiliastischen Varianten weiss man, dass einmal – und sei es nach tausend Jahren des Glücks – endgültig Schluss sein wird mit dem messianischen Paradies auf Erden und das Gericht unausweichlich kommen wird. Daher handelt die Apokalyptik auch vom Ernst der Nachfolge, von der Geschichte als dem Ort der Bewährung, von der Ermahnung, in der Jetztzeit so zu leben, dass wir uns des kommenden Herrn würdig erweisen. Denn die Jetztzeit ist die erfüllte Zeit, in der sich unser Heil oder Unheil entscheidet. Im paränetischen Horizont müsste man also das Diktum Hölderlins umkehren und mit Johann B. Metz sagen: "Wo Rettung naht, wächst auch die Gefahr" (…), nicht "angegürtet" zu sein (vgl. Lk 12,35), wenn der Herr wiederkommt. 

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* Beitrag zur Podiumsdiskussion "40 Jahre nach ‹Unsere Hoffnung›" am 16. April 2015 im Rahmen der interdisziplinären Woche der Theologischen Fakultät "Apocalypse now – Von Anfang und Ende der Welt".

 

 

1 Johann Baptist Metz: Zeit ohne Finale? Zum Hintergrund der Debatte über "Resurrektion oder Reinkarnation", in: Concilium 29 (1993), 458–462, hier 461.

2 Adolf Muschg: Wo führen wir hin?, in: Leonhard Reinisch (Hrsg.): Das Spiel mit der Apokalypse. Über die letzten Tage der Menschheit. Freiburg 1984, 78–84, hier 79 f.

3 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Bd. 1, Freiburg 21978, 71–111 (Einleitung von Theodor Schneider: 71–84; Beschluss: 84–111), I,4: 92.

4 Gilbert Greshake: Heil und Unheil? Zu Bedeutung und Stellenwert von Strafe und Sühne, Gericht und Hölle in der Heilsverkündigung, in: Ders.: Gottes Heil – Glück des Menschen. Theologische Perspektiven. Freiburg 1983, 245.

5 Vgl. Hans Halter: Gericht und ethisches Handeln. Zur Rede vom göttlichen Gericht in der modernen Dogmatik und zur Bedeutung dieser Rede für die Ethik, in: Theologische Berichte, Bd. 19. Zürich 1990, 181–224, hier 218.

6 Gotthard Fuchs: Gerichtsverlust. "Von der christlichen Kunst, sich recht ängstigen zu lernen", in: KatBl 120 (1995), 160–168, 161 f. (mit Niebuhrs Zitat).

7 Gemeinsame Synode (wie Anm. 3), I,4: 92 f.

8 Norman Cohn: Das Ringen um das tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen. München 1961, 271.

9 Vgl. dazu Ulrich H. J. Körtner: Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik. Göttingen 1988, 307 ff.

10 Ebd., 339.

11 Johann B. Metz: Im Angesicht der Gefahr. Theologische Meditation zu Lukas, Kapitel 21, und zur Apokalypse des Johannes, in: Leonhard Reinisch (Hrsg.): Das Spiel mit der Apokalypse. Über die letzten Tage der Menschheit. Freiburg 1984, 17–23, 23.

12 Ebd., 23.

 

Mariano Delgado

Mariano Delgado

Prof. Dr. Dr. Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Fribourg und leitet das Institut für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog.