Traurige Weihnachten

Eine Postkarte, die den Wehrmännern und ihren Angehörigen das Weihnachtsfest erträglicher machen sollte

Bei Kriegsbeginn Anfang August 1914 rechneten alle damit – kriegführende Staaten und auch die nichtkriegführenden neutralen Staaten wie Holland oder die Schweiz –, dass der ausbrechende Krieg kurz sein werde und die Sache bis Weihnachten 1914 «geregelt» sei.

Wir wissen heute, dass dem anders war und dass es anstelle eines begrenzten und kalkulierbaren Krieges, bei dem sich Angreifende und Angegriffene jeweils schon zum Voraus als Sieger sahen, einen lang andauernden Krieg gab, der nicht nur geografisch, sondern auch von den Menschen- und Materialverlusten her im wahrsten Sinne des Wortes ein Weltkrieg war. Einige Zahlen verdeutlichen dies eindrücklich: In den Jahren 1914–1918 wurden ca. 70 Mio. Soldaten mobilisiert, auf der Seite der Mittelmächte ca. 25 Mio., durch die Allierten ungefähr ca. 45 Mio. Soldaten. Von diesen Soldaten starben ca. 10 Mio., über 21 Mio. wurden verwundet. Die Zivilbevölkerung hatte über 8 Millionen Tote zu beklagen. Der erste wirklich industriell geführte Krieg mit der Artillerie, dem Maschinengewehr mit einer Schusskadenz von 600 Patronen pro Minute und dem erstmals eingesetzten Gas als Hauptwaffen veränderte die Krieg führung völlig und forderte ungeahnt viele Opfer. Anstelle des erwarteten Bewegungskriegs entwickelte sich an der Westfront, die in ihrem Süden im Pruntruter Zipfel bei «Le Largin» die Schweizer Grenze erreichte, ein zäher Stellungskrieg, der völlig nutzlos eine unglaubliche Menge an Menschen und Material verschlang. Es ist deshalb zutreffend, wenn im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg von der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» oder vom «Grossen Krieg» gesprochen wird.

Die Mobilmachung in der Schweiz

Der Kriegsausbruch traf die Schweiz Ende Juli/Anfang August 1914 weitgehend unvorbereitet. Zwar klappte es mit der Mobilisierung der 238 000 Soldaten und der 50 000 Pferde, wobei der Schwerpunkt der Armeeaufstellung von Anfang an die Nordwestgrenze der Schweiz war – daher das Bild von der Grenzbesetzung, das sich in unseren Köpfen festgesetzt hat –, während der wichtigste Verteidigungspunkt und Brückenkopf, die Fortifikation Hauenstein, nicht direkt an der Grenze lag, sondern den Verkehrsknotenpunkt Olten deckte, ergänzt mit der Fortifikation Murten, die beide einen Durchzug feindlicher Kräfte durch das Mittelland verhindern sollten. Nach Ansicht des Oberbefehlshabers der Armee, General Ulrich Wille, waren seine Truppen im August 1914 nicht kriegstauglich. Nachdem gegen Ende des Jahres 1914 absehbar war, dass die Mittelmächte und die Allierten sich an der Westfront in einem Stellungskrieg festbissen, wurden nur noch Teile der Schweizer Armee unter Waffen gehalten.

Kriegsfolgen auch in der Schweiz

Obwohl die neutrale Schweiz nicht direkt in den Krieg verwickelt war und sie nur sehr geringe direkt militärische Kollateralschäden zu ertragen hatte, war sie wirtschaftlich stark vom Krieg betroffen. Dies wirkte sich besonders nachteilig auf die unteren Schichten aus. Die Soldaten hatten während ihrer Aktivdienstzeit keinen Lohn, denn es gab vor dem Zweiten Weltkrieg noch keinen Erwerbsersatz. Zu Hause fehlten nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch die für die Landwirtschaft und den Transport unentbehrlichen Pferde. Die grössten Leidtragenden waren die Frauen. Die Mütter mussten ihre Familien zu Hause alleine durchbringen und die fehlende Arbeitskraft ihrer Männer ersetzen. Die Lebensmittelrationierung wurde erst 1917 – viel zu spät – eingeführt, sodass nicht wenige Familien zu Hause hungern mussten, während die Wehrmänner wenigstens genug zu essen hatten. Teile der Wirtschaft kamen in Krise, während andere wie etwa die Uhrenindustrie, die Bestandteile für Waffen und Zünder an die kriegführenden Mächte liefern konnte, erst so richtig in Fahrt kam, gleich wie die Bekleidungs-, Schuh- und Motorwagenindustrie. Neben zunehmender Armut und sozialer Unrast, die zu etlichen lokalen Streiks und schliesslich zum Generalstreik im November 1918 führten, gab es auch Kriegsgewinnler.

Für die Soldaten wie auch für ihre Familien war die Aktivdienstzeit und damit auch das Weihnachtsfest 1914 eine neue Erfahrung, für die meisten Soldaten vielleicht die erste längere Abwesenheit von zu Hause. Die Verschiebung ins Tessin, die bei vielenTruppen vorkam, löste fast touristische Gefühle aus und stiess auf Begeisterung.

Anfänge der Ökumene

Die nun grösseren Kenntnisse von Land und Leuten waren für den Patriotismus ein Katalysator, aber auch für die Ökumene, denn die konfessionell abgeschotteten Lebensräume wurden aufgebrochen. Dies führte zu mehr Verständnis für die Menschen anderer Konfessionen, mit denen man im Militärdienst nun auf engstem Raum zusammenlebte. Tagebuchauszüge des Mariasteiner Benediktinerpaters Willibald Beerli verdeutlichen dies eindrücklich (vgl. Urban Fink [Hrsg.]: Der Kanton Solothurn vor 100 Jahren. [Hier und Jetzt] Baden 2014, 201–212).

Traurige Weihnachten

Die Hoffnung, Weihnachten 1914 wieder zu Hause feiern zu können, ging nicht in Erfüllung. So gab es eine «Kriegsweihnacht», wo ein Weihnachtsbäumchen und Weihnachtsschmuck etwas festliche Stimmung herbeizaubern konnten – der Krieg förderte das bisher kaum verbreitete Tannenbäumchen – und in der Soldatenstube etwas Geborgenheit genossen werden konnte. Die Verbindung zur eigenen Familie wurde durch Postkarten und Briefe, welche durch die Feldpost gratis spediert wurden, erleichtert. Liebesgaben, Fress- und Wäschepakete waren Medizin gegen das Heimweh. Für das Weihnachtsfest 1916 ist im Schweizer Largzipfel, bei dem die Kriegsfront zwischen Deutschland und Frankreich begann, sogar eine trinationale Weihnachtsfeier überliefert. Dort gelang es zwanzig bis dreissig Männern aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz, sich auf Schweizer Boden an einen Tisch zu setzen. Die Männer schwuren sich gegenseitig, nicht mehr aufeinander zu schiessen. Sie wurden kurze Zeit später an andere Frontabschnitte versetzt. Das Schiessen hörte bereits an Weihnachten 1914 an vielen Orten für kurze Zeit auf, aber für viele Soldaten sollte es das letzte Weihnachtsfest sein.

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Drei Lesetipps

  • Daniel Marc Segesser: Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive. (marixverlag) Wiesbaden 42014, 249 S. Der an der Universität Bern wirkende Autor gibt einen exzellenten globalen Überblick.
  • Albert Gasser: Europas Urkatastrophe von 1914 und ihre Folgen. Beobachtungen und Betrachtungen zum 20. Jahrhundert. (Tardis Verlag) Chur 2014, 150 S. Der Schweizer Kirchenhistoriker Albert Gasser bietet essayistische Zugänge und stellt den Ersten Weltkrieg in einen grösseren Zusammenhang.
  • Roman Rossfeld / Thomas Buomberger / Patrick Kury (Hrsg.): 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg. (Hier und Jetzt) Baden 2014, 407 S. Der Aufsatzband gibt Einblicke in die nichtmilitärischen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs in der Schweiz.

 

Urban Fink-Wagner

Urban Fink-Wagner

Der Historiker und promovierte Theologe Urban Fink-Wagner, 2004 bis 2016 Redaktionsleiter der SKZ, ist Geschäftsführer der Inländischen Mission.