Spirituelle Begleitung im Sterbeprozess

Das Reizwort Spiritual Care ist im Trend. Gemeint ist die spirituelle Begleitung von Menschen in Krankenhäusern und Heimen. Spiritual Care gewann an Bedeutung im Kontext der palliativen Betreuung. Monika Renz stellt das Thema in den Kontext spiritueller Begleitung beim Sterbeprozess.

Der Begriff Care verweist auf eine Kultur des behutsamen Sorgens, das Wort Spiritualität ist ein Erfahrungsbegriff. Es geht um das Individuum und seine transzendente Erfahrung. Spiritualis war die lateinische Übersetzung des griechischen Pneumaticos (pneo = atmen, wehen, riechen). Es stand im 2. Jhd. für die hochgeistige Erfahrung, welche erwachsene Täuflinge beim Tauferlebnis hatten oder auch nicht. Die sich später entwickelnde romanische Spiritualitätstradition (Ordenstheologien) betonte das aus einer initialen Erfahrung resultierende Leben aus Gottes Geist. Die angelsächsische Linie legte Wert auf die «transreligiöse Färbung»1 und wollte für verschiedene Weltanschauungen anschlussfähig sein. Gemäss einer Umfrage von Selman (et.al.) (2014) gibt es drei Fragestellungen:

1. Wie helfen wir den Pflegenden, Ärzten und weiteren Betreuern, spirituelle Themen anzusprechen?
2. Wie können wir die (sich verändernden) spirituellen Bedürfnisse von Patienten und Angehörigen erfassen? Instrumente zur Befragung wurden entwickelt (bspw. SPIR).2
3. Mit welchen Interventionen können wir auf spirituelle Bedürfnisse und Nöte reagieren?

Ergänzende Fragen

Nicht berücksichtigt bleiben der Gnadenaspekt von Spiritualität sowie der Prozesscharakter von Krankheitsverläufen, die das Erleben Sterbender geradezu auszeichnen. Daher ergänze ich mit den Fragen:

4. Was sind Transzendenzerfahrungen Sterbender? Wie werden sie beschrieben?3 Spiritualität ist unverfügbar.

5. Gibt es Gesetzmässigkeiten von Sterbeprozessen, und welche Rolle spielt darin Spiritualität? Sterben ist ein Wandlungsprozess (vgl. Dying is a transition4) ähnlich und anders wie Nahtoderfahrungen.5

N. Noth, Mitte 50, weiss nicht, ob er sich als Christ oder als Buddhist verstehen soll. Er hat sich von allen verabschiedet und stirbt doch nicht. Zwei Wochen liegt er einfach seiend da. Klänge des Monochordes berühren ihn: Eigentlich sei da nichts als Ton, aber dieser Ton habe ihn erschüttert wie Meereswogen. Er habe Musik noch nie so sinnlich einfach gehört. «Es war Musik und doch viel mehr: Etwas war da.» «War eine Präsenz spürbar?», frage ich vorsichtig. Über Tage studiert er nach und versinkt immer mehr in einen anderen Bewusstseinszustand. Nochmals berührt ihn die Musik: «Die Töne mit den Obertönen sind wie ein Himmelszelt, in welches ich hineinfalle oder – fliege. Ob fallen oder fliegen, spielt keine Rolle mehr, ob Christ oder Buddhist auch nicht. Nur eines ist wichtig: Präsenz! Etwas ist da …» Immer schweigsamer wird er, immer dichter ist die Atmosphäre, in die er schliesslich still hineinstirbt, das Geheimnis um seine letzte Identität mitnehmend.

Letzte Reifung

«Wer nicht sucht, der findet nicht. Viele suchen nicht – und sie müssen das ja auch nicht (…)»6. Dieses Zitat zum Platz des Religiösen im Leben heutiger Menschen kann nahtlos auf Reifungsprozesse im Lebensende übertragen werden. Vielen verborgen, wird das Sterben anderen, die sich darauf einlassen, zum Türöffner. Sollen wir Reifungsprozesse am Lebensende begrüssen und – gegebenenfalls – fördern? Ein Blick darauf, was sich bei Menschen in solchen Momenten auftut, lässt aufhorchen: ein anderes Sein, weniger Angst, eine andere Begegnungsqualität. Viele machen tiefe spirituelle Erfahrungen.7 Dennoch bleiben das körperliche Leiden und die Abhängigkeit Anfrage in jedem Einzelfall. Ein Verständnis davon, worum es in letzten Reifungsprozessen geht, kann wegweisend sein: Reifung hat zeitlebens damit zu tun, wie ein Mensch sich zu seinen inneren und äusseren Vorgaben verhält (vgl. Würdekriterium im Leiden).8 Bei Reifungsprozessen in der zweiten Lebenshälfte (und in Todesnähe) geht es nicht um etwas, was wir tun, sondern das uns widerfährt. Anders als in jungen Jahren, die durch aktive Problemlösungen bestimmt sind, findet Reifung in Form eines Sich-in-Beziehung-Setzens statt.

Ein an den Rollstuhl gebundener Mann fragte Tag um Tag: «Wozu?» Er erhielt vom Pfleger den Impuls, einfach zu atmen und so das schwierige Ja, das kaum über die Lippen zu bringen sei, zuzulassen. Dann hatte er einen Traum: «Ich stehe im Gegenüber des absoluten Lichtes. Es ist gut, wie es ist.»

Eine Sterbende hatte vor ihrem Sterben plötzlich einen komplett veränderten – friedlichen, staunenden – Gesichtsausdruck. Ihr Mann war bewegt.

Bei vielen Sterbenden geschieht sichtbar ein «Mehr als Instinkt und verlöschender Körper». Dieses «Mehr» kann Ausdruck von Gnade sein und ist doch nicht einfach religiöses Konstrukt, sondern Ausdruck letzter Reifung.

Loslassen – Durchschreiten – Finden

Manchmal wird vor dem Sterben noch gerungen. Einige können wider alle Erwartung viele Tage nicht sterben. Ärzte fragen: Was steht dem Sterbenkönnen im Weg? Ich erkenne drei Ursachen:

Blockiertes Loslassen: Vergangenes (eine tiefe Verletzung) oder eine schwierige Familienkonstellation können das Loslassen blockieren. Oft hilft bewusste Zuwendung zum zugrundeliegenden Problem und darin manchmal ein Segenswort.

Angst: Viele Sterbeprozesse kommen ins Stocken aus Angst. Es geht teils um unmittelbare Empfindungen: die sich verlierenden Gefühle für Zeit, Raum und Körperlichkeit. Ich ermutige oft zum Voranschreiten im Prozess, zum Sprung ins Leere.

Suchprozesse: Bisweilen scheint eine Suche nach dem Unfassbaren nicht abgeschlossen zu sein, mitunter weil die Sprache dafür fehlt. Die Frage anzusprechen, was nach dem Tod komme, ist heikel. Und doch befreit genau dies etliche – nicht nur religiöse – Patienten. Hier hilft es, den Sterbeprozess als Loslassen und Finden zu sehen. Bilder von Religionen und Mystik (Licht, Paradies, Heilige Stadt, Fest) dienen der Veranschaulichung. Einige wollen den Übergang abstrakt verstehen (zeitlich: vom Berechenbaren über das Endlose ins Zeitüberdauernde; räumlich: vom Verlust der körperlichen Begrenzung in eine grössere Heimat). Das mag wie ein Bekenntnis zur Transzendenz anmuten, kann aber auch einfach den Prozess des Transzendierens bisheriger innerer Grenzen beschreiben.

Suche nach Systematik

Sterben und letzte Reifungsprozesse sind individuell. Sie ereignen sich körperlich, instinkthaft und gehen oft über ins Spirituelle. Sterbebegleitung im Seelisch-Spirituellen ist «Dasein für» – und braucht doch Methode.9 Konzepte gibt es mehrere (Dignity-Therapie10), doch setzt solche Biografiearbeit meist ein noch waches Ich voraus. Was geschieht, wo das Ich bereits in Auflösung begriffen ist? Welches sind tiefer liegende Sehnsüchte?

R. Rohr spricht von einem «inneren Entwurf (was eine gute Beschreibung unserer Seele ist).»11 An diesem Entwurf gelte es festzuhalten. Dürfen wir von einem «inneren Entwurf» überhaupt ausgehen, gibt es einen Wesenskern jedes Menschen, den es zu finden und zu entwickeln gilt? Die Frage muss in der Praxis stets offen bleiben. Doch das entbindet uns nicht von der Grundsatzdiskussion darüber, was reifes Leben und Sterben ist – und auch nicht von der Feststellung, dass Reifung zum Menschsein gehört. Allein schon ein Blick in die Natur und ins Tierreich lässt aufhorchen: Es ist, als könnten Tiere oder Pflanzen ihre Entelechie nicht gleichermassen verpassen wie der Mensch.

Zwischen Seelsorge und Psychotherapie

Wer, welche Berufsgattung – Seelsorge, Psychotherapie, Pflege, Ärzte, Freiwillige – soll für diese spirituelle Begleitung zuständig sein? R. Hefti antwortet: Das interdisziplinäre Behandlungsteam hat die Aufgabe, sich um den ganzen Patienten zu kümmern («total patient care») und damit auch die spirituellen Bedürfnisse und Nöte zu integrieren.12 Nach ihm sind auch die Ärzte gefordert, hinsichtlich der Spiritualität eine aktive Rolle zu übernehmen. Ich frage anders: Wer ist bei einer spirituellen Begleitung am Rande involviert und wer in seiner Kernkompetenz dafür geeignet? Das ist Anfrage an unser Ausbildungsprofil, aber auch an uns als Person: Wer kann mit spirituellen Erfahrungen eines Patienten umgehen? Als Kernkompetenzen erfordert Spiritual Care das Seelsorgerische und Psychotherapeutische; ich plädiere für die Verbindung der beiden Disziplinen – Psychotherapie, die das Transzendente als letzten Bezugspunkt anerkennt, und therapeutisch qualifizierte Seelsorge. Interventionen sind vielschichtig: vom Zuhören bis hin zur Anfrage: «Woran glaube ich selbst?»

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Literatur

Chochinov HM, Hack T, Hassard T [et al.] (2005). Dignity therapy. A novel psychotherapeutic intervention for patients near the end of life, Journal of Clinical Oncology. 23,5520-25.

Frick, E., Weber, S., & Borasio, G. D. (2002). SPIR-Halbstrukturiertes klinisches Interview zur Erhebung einer «spirituellen Anamnese». Abgerufen von http://www.hfph.mwn.de/lehrkoerper/lehrende/frick/interviewleitfaden-spir-herunterladen

Kaufmann, F.-X. (2014). Zwischen Wissenschaft und Glauben. Persönliche Texte. Freiburg: Herder.

Kohli Reichenbach, C. (2014). Spiritualität im Care-Bereich. Begriffsklärungen zu Palliative Care, Spiritual Care und Spiritualität. In I. Noth & C. Kohli Reichenbach (Hrsg.), Palliative und Spiritual Care: Aktuelle Perspektiven in Medizin und Theologie (S. 11–22). Zürich: Theologischer Verlag.

Hefti, R., Rademacher, S., Pfeifer, H.-R., & Gürber, R. (2013). Spiritual Care – Modewort, Trend oder echte Notwendigkeit? Schweizerische Ärztezeitung, 94(44), 1684–1685.

Lommel, P. van (2011). Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung (4., aktualis. u. erg. Aufl.) Ostfildern: Patmos.

Renz, M. (2014). Hoffnung und Gnade. Erfahrung von Transzendenz in Leid und Krankheit. Spiritual Care. Freiburg i. Br.: Herder, 2014.

Renz, M. Hinübergehen. (2015). Was beim Sterben geschieht. Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens. Freiburg: Herder TB.

Renz, M., Schütt Mao, M., Bueche, D. (et al.) (2013). Dying is a transition. The American Journal of Hospice & Palliative Medicine. 30(3),283–90.

Rohr, R. (2012). Reifes Leben. Eine spirituelle Reise. Freiburg i. Br.: Herder, 2012.

Selman, L., Young, T., Vermandere, M. (et al.) (2014). Research priorities in spiritual care. An international survey of palliative care researchers and clinicians. Journal of Pain Symptom Management, 48(4),518–531. http://dx.doi.org/10.1016/j.jpainsymman.2013.10.020

 

1 Kohli, 2014, S. 20.

2 Frick (et al.), 2002.

3 Vgl. Renz, 2014.

4 Renz (et al.), 2013, Renz, 2015.

5 Vgl. van Lommel, 2011; Renz, 2015.

6 Kaufmann, 2014, S. 106.

7 Renz 2014.

8 Renz, 2015, S. 34f.  

9 Vgl. Renz 2014, S. 165–192, inkl. Ideenkartei.

10 Chochinov (et al.), 2005.

11 Rohr, 2012, S. 13.

12 Hefti, 2013.

Monika Renz |© Monika Renz

Monika Renz

Dr. phil. Dr. theol. Monika Renz arbeitete als Musik-und Psychotherapeutin. Sie promovierte 1994 in Psychologie und 2008 in Theologie. Seit 1998 ist sie Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen.
Monika Renz dankt für die Mitarbeit an diesem Beitrag den Kollegen Elmar Tomasi, Peter Gutknecht, Henning Hüsemann.