Religion – Herrschaft – Gewalt

Die Gewaltfrage wird im Zusammenhang mit Religion äusserst kontrovers diskutiert. Dem Thema stellte sich eine Tagung an der Universität Luzern.1

An René Girards Theorie knüpfte Wolfgang Müller (Luzern) an. Der Sündenbockmechanismus werde durch das einmalige Opfer Christi überwunden.2 Jesu Kreuzestod ist in dieser Sicht das Opfer, das jedes weitere überflüssig macht. Girard nimmt als Kulturtheoretiker eine Aussensicht ein. Mit Bezug auf den Hebräerbrief konnte Müller Girards Theorie auch aus der Innensicht einiges abgewinnen.

Ist der Glaube an den Einen Gott der Ursprung religiöser Gewalt?

Wenn heute das Thema Religion und Gewalt theoretisch reflektiert wird, führt kein Weg an Jan Assmann vorbei. Es gebe, so Assmann, eine Verbindung zwischen Monotheismus und Gewalt, denn mit dem Glauben an den Einen Gott wird der Status der anderen Götter prekär, sie werden zu falschen Göttern, zu Götzen. Die Unterscheidung wahr/falsch zieht in die Religion ein.3 Doch war Assmann nie so naiv, polytheistischen Religionen Friedfertigkeit zu unterstellen, denn ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass Reiche mit polytheistischer Religion massiv gewalttätig sein konnten.

Einen ersten Höhepunkt der Veranstaltung bildete der Vortrag von Heiner Bielefeldt, Philosoph und UNO-Menschenrechtsbeauftragter. Er schöpfte aus seiner riesigen Erfahrung und lenkte den Blick auf die vielen aussereuropäischen Konflikte, bei denen Religion eine Rolle spielt, die wir aber kaum oder gar nicht zur Kenntnis nehmen. Aus Bangladesch mussten beispielsweise in den letzten Jahren Millionen von Hindus emigrieren, weil ein Gesetz sie ihres Eigentumsrechts beraubte, während in Saudi-Arabien die Schiiten eine diskriminierte Minderheit darstellen. Vom Standpunkt der Praxis helfe die Assmann-These nicht, Konflikte zu verstehen, so Bielefeldt, handle es sich doch in vielen Fällen um Konflikte innerhalb einer monotheistischen Religion.

Islam und Gewalt

Wenn heute von religiös geprägter Gewalt die Rede ist, dann oft im Zusammenhang mit dem Islam. Deswegen wurde der Vortrag von Samuel Behloul (Luzern) besonders erwartet. Der Vortragende gab einen Einblick in die Auslegung von Koran-Suren, die sich durchaus widersprechen können, wie Bibelstellen ja auch. In der islamischen Theologie gelte das Prinzip der Abrogation: Bei widersprechenden Aussagen werden ältere Suren durch jüngere aufgehoben. Nun ist es so, dass die Suren, die zu Gewalt aufrufen, jüngeren Datums sind. Hier zeigte der Vortragende, dass auch diese Stellen im historischen Zusammenhang gelesen werden müssten.

Die junge islamische Gemeinde habe das Recht auf Selbstverteidigung, das sei der Sinn dieser Stellen. Einigen Muslimen, die im Westen den Koran lesen, fehlt die islamische Gelehrsamkeit, sie seien eigentliche «Laientheologen». Was in unseren Ohren einen positiven Klang hat, wird zum Problem, wenn junge Leute ohne jede religiöse Bildung aus diesen Gewalt-Suren eine Selbstermächtigung ableiten oder auf radikale Prediger hören, die selber eine höchst ungenügende Bildung mitbringen. Behloul erwähnte den französischen Islamwissenschaftler Olivier Roy nicht, aber Roys Erklärung des Islamismus als einer dekontextualisierten Religion, das heisst einer Religion, die Tradition, anerkannte Autorität und Kultur verloren hat, zielt genau auf diese Phänomene.4

Was kann das Recht zur Zivilisierung von Religionen beitragen?

Alt Bundesrichter Giusep Nay schlug selbstkritische Töne an und fragte zuerst, ob denn das Recht überhaupt etwas zum Thema beitragen könne. Von einer historischen Perspektive ist die Antwort sonnenklar: Es war der Staat mit seinem Recht und seinen Institutionen, die die konfessionellen Konflikte in der frühen Neuzeit stillgestellt hat, indem er eine über den Parteien stehende, nicht-konfessionelle Ordnung schuf, oder besser: indem er die konfessionelle (Wahrheits-) frage pragmatisch der Machtfrage unterordnete: Cuius regio, eius religio. Erst dieser Schachzug entspannte den konfessionellen Gegensatz, so dass das heutige europäische System entstehen konnte. Namentlich im deutschsprachigen Mitteleuropa kennt man die verfassungsrechtliche Anerkennung der Religionsgemeinschaften. Sie stellt ein Angebot von Seiten des Staates dar. Damit sind aber auch Pflichten verbunden. Die religiösen Gruppierungen müssen unter anderem offenlegen, wie sie sich finanzieren. Dieses Modell funktioniert bei den christlichen Kirchen. Samuel Behloul bemerkte in der Diskussion, die muslimischen Gemeinden seien «strukturschwach». Ihnen fehlt also jener Aufbau, den wir von den Kirchen her kennen. Eine staatliche Anerkennung islamischer Gemeinschaften, die einige Religionsverfassungsrechtler befürworten, scheitert vorläufig auch an der Vielzahl unterschiedlicher, oft durch Nationalität getrennter islamischer Vereine.5

Gewalt im Alten Testament

Gewalt in den Büchern des Alten Testaments nährt die Rede vom gewalttätigen Ein-Gott- Glauben oder tout court von der Gewalttätigkeit aller Religionen. Martin Mark (Luzern) nahm nicht zufälligerweise Assmanns Buch «Exodus» als Hintergrund seines Vortrages. Assmann hat in der letzten Zeit seine Position nämlich modifiziert. Die Frage lautet jetzt: Wieso wurde die Durchsetzung des Monotheismus so gewalttätig erinnert? Damit machen wir einen Schritt zurück, wir nehmen die Gewaltbeschreibungen nicht zum Nennwert, wir fragen uns vielmehr, wieso sie aus einer späteren Perspektive produziert wurden. Ein Beispiel: Das Buch Josua schildert, wie die Israeliten sich in brutalen Kriegen gegen die angestammte Bevölkerung des Gelobten Landes durchsetzen müssen. Nun gibt es jedoch überhaupt keine archäologischen Befunde dafür; einiges deutet darauf hin, dass sich die Israeliten mit der kanaanäischen Urbevölkerung nach und nach vermischt haben.6 Wieso dann aber die Gewalterzählungen? Assmanns ingeniöse Antwort: Die Gewaltgeschichten sind ein Symptom dafür, dass die Kultzentralisation in Jerusalem und die Durchsetzung der exklusiven JAHWE-Verehrung auf erhebliche Widerstände stiess. Die Israeliten selbst sind die Kanaanäer, bzw. jener Teil von ihnen, der an den alten Kulten festhalten wollte.7

Grundsätzlich gesehen war Gewalt Teil der Alten Welt. Das Alte Testament verschweigt weder Gewalt, noch redet es sie klein. Bei aller Texthermeneutik bleiben jene Texte ein Stachel im Fleisch, der uns zwingt, über Gewalt und deren Überwindung nachzudenken.

Strukturelle Gewalt in der katholischen Kirche

Mit Blick auf die sexualisierte Gewalt in katholischen Institutionen reicht es nicht, so Stefanie Klein (Luzern), auf die einzelnen Täter abzustellen. Der von Johan Galtung herkommende (umstrittene) Begriff der strukturellen Gewalt soll das Gefüge der Institutionen und ihr gewaltförderndes Potenzial in den Blick nehmen. Die anschliessende Diskussion konnte diesem Ansatz einiges abgewinnen. Auch die ungleichen Geschlechterbeziehungen müssten verändert werden, wenn dieses Problem gelöst werden solle, hiess es.

Was tun mit Gewalttexten?

Birgit Jeggle-Merz (Luzern und Chur) lenkte die Aufmerksamkeit auf jene Psalmen, die uns als gewalttätig erscheinen. Es gibt Bestrebungen, sie aus der Tagzeitenliturgie zu streichen. Klüger wäre es, so die Vortragende, einen bewussten Umgang mit ihnen zu finden.

Die Tagung legte differenzierte wie auch selbstkritische Perspektiven auf den Zusammenhang von Religion und Gewalt offen, die die öffentliche Diskussion voranbringen könnten, wenn sie denn nur wahrgenommen würden. Jedenfalls bleibt dieses Thema ganz oben auf der Tagesordnung, auf der politischen wie der wissenschaftlichen.

 

1 Am 22./23. 9. 2017, veranstaltet durch die Theologische Fakultät Luzern.

2 Vgl. René Girard: Der Sündenbock, Zürich 1988.

3 Vgl. Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003.

4 Vgl. Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, München 2010.

5 Vgl. Adrian Loretan, Quirin Weber, Alexander Morawa: Religion und Freiheit: die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften in der Schweiz, Zürich 2014.

6 Vgl. Israel Finkelstein, Neil Asher Silberman: Keine Posaunen von Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München 2003.

7 Vgl. Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015.

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.