Mit Würde dem Lebensende entgegen

Mit Würde dem Lebensende entgegengehen? Von Getsemani nach Golgota, so wie es uns Jesus Christus mit höchster Würde vorgelebt hat. Übersteigt diese göttliche Würde nicht alle unsere menschlichen Kräfte? Der Mut zur Gegenwartsgestaltung keimt aus dem Glauben und der Zukunftshoffnung. Glaube, Hoffnung und Liebe; doch am höchsten steht die Liebe (1 Kor 13,13). Sie sind auch die «Werkzeuge» des Arztes.

Präambel

Über Geburt, Krankheit, Schmerz, Leiden, Tod und Sterbebegleitung zu schreiben, ist etwas ganz anderes als selber leiden. Ich weiss nicht, welches Schicksal mir bestimmt ist und wie ich mich verhalten werde, wenn Thanatos, der Sohn der Nacht, am Bett stehen wird. Wird mich Angst überfallen? Werde ich stöhnen? Oder beten? «Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst» (Mt 26,39). Wird mich Jesus an seiner Passio und Compassio teilnehmen lassen? Der Gedanke ist belastend. «Keinem Sterblichen glückt’s, unversehrt seinen Gang bis zum Lebensend leidlos zu wandeln. Ach, ach, trifft doch Not den sogleich, jenen künftig», so Aischylos (um 525–465 v. Chr.).1 Mit Würde dem Lebensende entgegengehen setzt den Glauben und die «Kunst des Hoffens»2, menschliche Nähe und begleitende Liebe voraus. «Wenn auch die letzte Hoffnung nicht mehr ist auf Heilung, wenn du Tage und Minuten zählst zum Ende (…) wenn nur noch Liebe ist, so ist doch sie!»3

Besinnung: auf den Geist der Medizin, das Arzttum, auf eine Medizin, die mehr als Naturwissenschaft und mehr als distanziertes Machen ist. «Am Anfang steht ein leidender Mensch, der die Hilfe eines andern Menschen anruft, und der Angerufene will helfen.»4 Als Mitmensch und aus Nächstenliebe nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters (Lk 10,29–37). «Kein Berufsstand ist besser als jene Gemeinschaft, aus der er hervorgeht und in der seine moralischen Wurzeln stehen.»5

Selbst in vollkommener Anwendung der modernen Methoden der Medizin ist es von entscheidender Bedeutung, welches Menschenbild vor der Seele des Arztes steht, der so unablässig mit den einzelnen Organen und Organsystemen des Menschen und damit zugleich mit seiner Gesamtheit, mit der Person, zu tun hat. Gläubige Ärzte beten, bevor sie (be)handeln: «Herr, wirke Dein Werk durch mich.»6

Glaube ist ein Beziehungsgeschehen. Der Dialog mit Gott, der ruft, und dem Berufenen, der behandelt, leitet das Tun und Lassen dieser Ärzte. «Das Gebet ersetzt keine Tat, aber es ist eine Tat, die durch nichts zu ersetzen ist» (Dietrich Bonhoeffer).

Die Geburtsstunde der Medizin

500 Jahre vor Christi Geburt, ohne Kenntnis des Dekalogs, ohne Wissen um ein göttliches Gebot der Liebe des Nächsten, wie es das dritte Buch Mose (Lev 19,18 b) postuliert und das Christentum (Mt 5,43–48) neu betont und gepredigt hat, schwört der griechische Arzt den hippokratischen Eid: «nach bestem Wissen und Vermögen seine Kunst nur zum Heile der Kranken anzuwenden, niemandem tödliches Gift zu reichen, auch nicht, wenn er darum bittet; auch keinen Rat über solche Gift zu erteilen; keine Abtreibungsmittel zu geben; nie Patienten sexuell zu missbrauchen; Geheimnisse, die sein Beruf ihn erfahren lässt, strikte zu bewahren».7 Das Arztgeheimnis ist wie das Beichtgeheimnis unverletzlich.

Die Medizin, aus Nächstenliebe und Helferwillen geboren, konnte Triumphe feiern, seitdem sie die Wege angewandter Naturwissenschaft verfolgt. Wir dürfen in einem Land mit einer der besten medizinischen Versorgung der Welt, mit Spitzen- und Luxusmedizin leben. Medizin ist an sich etwas Grossartiges, ein riesiges Monument des menschlichen Geistes. Was die moderne Medizin kann, ist überwältigend. Die Segnungen sind bewundernswürdig, von der Geburt bis zum Tod. Das verpflichtet uns, «etwas von unserem Überfluss jenen weiterzugeben, die davon nicht profitieren können».8 Die moderne Medizin nahm dem Tod viel Land weg, die Lebensdauer des Menschen hat sich mehr als verdoppelt. Die Forschung hat die Grenze des Beherrschbaren und Machbaren verschoben. Ist die Lobeshymne auf die moderne hoch spezialisierte Medizin ohne Einschränkung berechtigt? Oder müssten wir uns in dankbarer Anerkennung der Fortschritte nicht auch die Frage stellen: Wo sind wir hingelangt? Der potenzielle Fluch liegt in der Einseitigkeit und in der Masslosigkeit, im ungebremsten äusseren Fortschritt und Wachstumszwang, im immer rücksichtsloser auf ökonomische Leistungssteigerung ausgerichteten Denken sowie in der Blindheit gegenüber den Grenzen der Machbarkeit und gegenüber der Sinnfrage.

Zeichen der Zeit

Die grosse Tradition philosophischer Besinnung auf den Geist der Medizin und das Arzttum scheint zu versanden. Das Erbe haben Vorstellungen von Machbarkeit und Wunscherfüllung angetreten. Unsere Machbarkeit und deren Sicherheiten und Versicherungen stehen im Kontrast mit Unverfügbarem und Unwägbarem. Ambivalenz und Missbehagen kennzeichnen die gegenwärtige Situation im Gesundheitswesen. Jakob Klaesi ist mit seiner Feststellung nicht allein, wenn er sagt: «Darum ist der tauglichste Krankheitsbegriff heute ein sozialer.»9 Der Leib der Gesellschaft ist krank. Die Gesellschaft leidet an sich selbst. Unsere Gesellschaft hat im Zeitalter der Postmoderne ihr gemeinsames Menschenbild und Kulturverständnis verloren.

Leidensdruck, Verzweiflungstaten und Personenunfälle bei der Bahn gehören zu den Zeichen der Zeit. Machbarkeit und gesellschaftliche Entwicklungen konfrontieren Ärzte mit Forderungen vom Lebensanfang bis zum Lebensende. Politiker und Experten ringen um «Spitallisten», «Evidence based medicine», «Informed consent» und «Diagnosis Related Groups». Man spricht von «Gesundheitssystemen ». Diese werden exportiert und importiert. Statistiken, Bürokratie und Mehrheitsbeschlüsse reden ein Machtwort. Die gesellschaftliche Diskussion spitzt sich heute zu auf die «lebensunwerten» Behinderten. Es geht um die Qualität des «Produkts» Mensch. Hier taucht in anderem Gewand die uns allen aus naher Vergangenheit bekannte Frage über den Wert oder Unwert menschlichen Lebens wieder auf. Eine Ahnung von Apokalypse. «Nun wird heute kaum jemand direkt die Vorgängigkeit der Menschenwürde und der grundlegenden Menschenrechte vor allen politischen Entscheiden verleugnen; zu kurz liegen noch die Schrecknisse des Nazismus und seiner Rassenlehre zurück» (Joseph Kardinal Ratzinger). 10 Der anglikanische Pastor James Woodword spricht sich gegen den assistierten Suizid aus, weil er befürchtet, dass der Staat diesen für einen noch weiteren Abbau von Leistungen des Gesundheitswesens missbrauchen würde. Am christlichen Glauben verankerte Positionen haben nicht einen geringeren Stellenwert als säkulare.

Medizin ist Allegorie eines ewigen Fortschrittsglaubens und Wunschdenkens geworden, aber auch Allegorie der Rat- und Orientierungslosigkeit, ewiger Unzufriedenheit, der Verdrängung: «… wird nicht eben schliesslich eine Grenze erreicht, wo der Mensch erkennen muss, dass gottähnlich nicht gottgleich bedeutet?»11 «Vollzieht sich die moralische Entwicklung der Gesellschaft nicht ohnehin entlang der technischen Möglichkeiten und nicht umgekehrt?»12

Führt moderne und stetig fortschreitende naturwissenschaftliche Medizin schliesslich zur «Abschaffung des Schicksals»?13 Medizin-technische Machbarkeit stösst an Grenzen. Das Leben muss erlebt und erlitten werden. «Man muss das Leben zu ertragen lernen» (Papst Pius XII.).14 Die Substanz des Lebens besteht aus Freude und Leid. Geburt und Tod, Freude und Trauer gehören immanent zum Leben jedes Menschen. Werden und Vergehen – die «Zeitlichkeit der menschlichen Existenz»15 – erscheinen als das eigentliche Wesen des Lebens. Ohne Tod gäbe es keine Individualität. Der Tod ist ein integraler Bestandteil des Lebens und eine Realität wie Geburt, Wachstum und Alter.

Grundfragen

«Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben hat – wenn sie ernst genommen wird – politische Sprengkraft.»16 Angesichts aktueller Entwicklungen in der Medizin und im Gesundheitswesen ist das «3. Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin» an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. von höchster Aktualität und Bedeutung:17 «Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt. » (1 Petr 3,15).

Die prä- und postnatale Diskriminierung von Menschen scheint längst zur Regel geworden zu sein. Ärzte sehen in der Schweiz die Grundversorgung der Kinder gefährdet. Kindermedizin ist wenig lukrativ. «Die Wichtigkeit des Faches (Kinderheilkunde) nimmt immer stärker ab, und kein Hahn kräht danach. »18 Kinderärzte müssen sich stärkeres Gehör verschaffen. Jesus war auch ein Wortführer der Kinder: «Lasst die Kinder doch zu mir kommen, und hindert sie nicht daran» (Mk 10,14). «Wahrscheinlich wird man die Scholaren bitten müssen, ihr Vorphysikum bei der theologischen Fakultät abzulegen, damit sie nicht an der Leiche, sondern an der Seele erkennen, wer dieser Mensch ist, dem sie von seinen Leiden helfen sollen.» Dieses Zitat stammt von «gestern », jedoch von keinem Geringeren als dem Chirurgen und Schriftsteller Peter Bamm.19

Pallium und Hospitium

Wie soll der Arzt unheilbar Kranke und Leidende jeglichen Alters behandeln? Wie soll er Menschen, deren Leiden in absehbarer Zeit zum Tode führen wird, begleiten? Nicht als Zuschauer! Wesentliche Kriterien trennen die Palliativmedizin (Palliative Care) von der aktiven Sterbehilfe. Der Name Palliativmedizin wird auf den hl. Martin (316–397), Einsiedler, Mönch und später Bischof von Tours, zurückgeführt, der einem frierenden Bettler seinen Mantel (lat. pallium) umlegte. Heute ist Palliativmedizin ein segensreicher komplementärer Bestandteil der Medizin. Nicht die Verlängerung des Lebens um jeden Preis, sondern die Lebensqualität, die Wünsche, Ziele und das Befinden des Patienten stehen im Vordergrund der Behandlung. In der Position der Vereinigung Katholischer Ärzte der Schweiz (VKAS) zur Sterbehilfeproblematik heisst es: «Die humane Antwort auf das Leiden besteht nicht in der Auslöschung des Leidenden, sondern in palliativer, fürsorglicher und lindernder Behandlung und Betreuung. Nur so kann auch einer Kultur des Lebens gedient werden.»20

Die beiden klassischen Formalprinzipien «salus aegroti suprema lex» (das Heil des Kranken ist das oberste Gesetz) und «voluntas aegroti suprema lex» (der Wille des Kranken ist das oberste Gesetz) stehen seit der Antike in einem Spannungsverhältnis, das sich wohl nie ganz überwinden lässt. Ver schiedene Positionen sind im liberalen Denken, in der Medizinethik, in der Rechtswissenschaft oder im Glauben verwurzelt. Sie sollten eine möglichst grosse gemeinsame Deckfläche haben. Am Anker des Glaubens festgemachte Positionen befassen sich ebenso sehr mit den grossen Fragen des Lebens, wie säkulare Positionen. Das Ganz-Sein (hole ousia), das Heilsein von Leib und Seele, Heilung, Heilwerden und Heil sind eng miteinander verknüpft. Begleitung Leidender und Sterbender verlangt vom Arzt ein Höchstmass an Einfühlung (Empathie). Wie weit darf Empathie gehen? Wo ist Distanz nötig? Das gilt auch für den Arzt, wenn bei einem ihm anvertrauten Leidenden die Lebensfunktionen am Erlöschen sind, wenn die Gesamtheit aller «Antriebe» für die Erhaltung des Lebens ausfallen. «Der Mensch braucht Medikamente und Sakramente.»21 Jedoch «dürfen medizinische Heilmittel und die Sakramente der Kirche nicht willkürlich ausgeteilt werden».22

Das Leben muss erfahren und erlitten werden. Die Substanz des Lebens besteht aus Freude und Trauer. Das Leben konfrontiert uns im Alltag immer wieder mit konkreten Situationen und mit dem Phänomen von Einlassen und Loslassen. Alles, worauf wir uns im Leben einlassen, muss einmal wieder losgelassen werden. Loslassen heisst Abschied nehmen. «Lebendiges Leben besteht aus tausend kleinen Toden, aber auch Auferstehungen und Wiedergeburten, aus tausend Abschieden, Verlusten, freiwilligen oder unfreiwilligen Entsagungen, Trennungen, aber auch neuen Bindungen.»23 Der sorgfältige und verantwortungsvolle Umgang damit prägt die menschliche Kultur und die Tätigkeit des Arztes.

Die Würde aller Menschen erkennen und respektieren gilt für alle Lebensphasen, von der Geburt bis zum Lebensende. Es ist kein einfacher Weg, mit Würde dem Lebensende entgegenzugehen. Die letzte Lebensphase erfordert Begleitung und ein hohes Mass an Gestaltung. Der Schweizerische Katholische Frauenbund (SKF) hat sich eingehend mit diesen existenziellen Fragen auseinandergesetzt und diese im SKF-Grundsatzpapier «Mit Würde dem Lebensende entgegen» zusammengestellt.24 Es ist eine zentrale Aufgabe der Ethik und des interdisziplinären Dialogs, auf die umfassende Sicht des menschlichen Lebens aufmerksam zu machen und damit einem schleichenden Wachstum von Bedürfnisansprüchen, die mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und wirtschaftlichen Interessen verknüpft sind, zu wehren. Zu den Initianten und grossen Vorbildern für den interdisziplinären Dialog gehören Hans- Georg Gadamer und der Arzt Viktor von Weizäcker.

Wohin soll ich mich wenden?

«Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?»25 «All das, was ehedem den Hausarzt zum Freund der Familie machte, verweist auf Elemente ärztlicher Wirksamkeit, die wir heute oft schmerzlich entbehren.»26 Humanität wird am Individuum Realität. Kranke werden der Anonymität der klinischen Medizin ausgesetzt. Wo die Wissenschaft etwas weiss, verlieren Vermutungen, Patientengefühle und Laienwissen ihre Legitimität. Von Franz Kafka stammt das Wort: «Der Kranke fühlt sich vom Gesunden verlassen, der Gesunde aber auch vom Kranken.» Der Kranke, der sein Zuhause verlassen muss, um in ein Spital eingeliefert zu werden, erfährt einen tiefgreifenden und schmerzlichen Wandel seiner Umwelt. An uns allen ist es, dafür zu sorgen, dass die Einlieferung in das Spital nicht zur Auslieferung an ein bürokratisch-technisches System wird, das der Kranke nicht durchschaut und ihn erst recht zu einem «Patienten » (Leidenden) macht. Der Kranke wird auf sich selbst zurückgeworfen. Darin kann auch eine Chance liegen, die Chance, sich selbst zu finden. Erlittene Passivität kann vitale Kräfte aktivieren.27

Was zeichnet den Arzt aus, den ich allen Kranken und Leidenden wünsche? Er ist – mit Worten des flämischen Mystikers Jan Ruysbroeck (1293– 1381) – «sanft und demütig von Herzen, freundlich und gütig zu jedem, der seiner bedarf».28 Er ist zurückhaltend, stellt keine Regeln auf, weder Gebote noch Verbote. Er ist, wann immer er dem Kranken gegenübertritt, mit seiner ganzen Aufmerksamkeit und seinem Können bereit zu dienen, damit sich der Kranke im Gegenüber zu ihm besser erkennt. Er hat Zeit. Er weiss beim Operieren, dass sein Eingreifen einen doppelten Aspekt hat, verletzend und heilend ist: «Vulnerando sanamus». Er weiss, dass es ausser dem Kranken und dem Helfer noch etwas anderes, ein Drittes gibt: Gott. Gott ist bei jeder Heilung mit im Spiel; ja letztlich ist er entscheidend, denn zu gross sind die Widerstände, die sich einer Heilung entgegensetzen. Ein Arzt, der sich Jahwe zuwendet, der muss sich in Ihm auch den Menschen zuwenden (Dtn 6,4–9; Lev 19,18). «Die Vollkommenheit der Liebe besteht nicht in der Gewissheit der Erkenntnis, sondern in der Stärke des Ergriffenseins», so Thomas von Aquin (1225–1274).

Epilog

Die eigene Endlichkeit annehmen zu lernen, gehört zu den Lebensaufgaben jedes Menschen. «Lebendiges Leben besteht aus tausend kleinen Toden, aber auch Auferstehungen und Wiedergeburten, aus tausend Abschieden, Verlusten, freiwilligen oder unfreiwilligen Entsagungen, Trennungen, aber auch neuen Bindungen.»29 Der Umgang damit prägt die menschliche Kultur. Immer mehr Menschen sehnen sich nach salutogenen Heilungskonzepten, nach einfühlsamer, begleitender und beschützender Palliativmedizin (Palliation, lat. pallium = Mantel), nach einem «Hospiz» (lat. hospitium), wo sie Gast (lat. hospes) sind, nicht bezahlende Kunden. Die Begleitung und Therapie in der Sterbestunde zeugt vom Menschenbild des Arztes. Die Humanisierung der Arzt-Patientenbeziehung beginnt in der Sprechstunde, mit dem einfühlsamen anamnetischen Gespräch, mit Vertrauensbildung, nicht mit einer Blutentnahme. Jesus war «Arzt ohne Grenzen» (MSF), nicht nur am Jakobsbrunnen (Joh 4,4–26), oder mit Worten von Gadamer «nicht nur Fachmann, sondern sozial und politisch verantwortlich Handelnder».30 Jenseits all dieser Fragen und Aporien, die sich auftun, wenn man sie zu beantworten sucht, bleibt Irritation, «die Irritation darüber, dass die neuen diagnostischen Möglichkeiten zu einer neuen Form Prophylaxe geführt haben, bei der man Behinderungen und Krankheiten durch die Eliminierung künftiger Behinderter und Kranker bekämpft».31

Peter Bamm lenkte in seinem 1948 erschienenen Buch «Ex ovo» – Essays über die Medizin –32 die Aufmerksamkeit auch auf die Bedeutung des Natriumsalzes der Diaethylbarbitursäure (Pentothal ®), auf jenes weisse Pulver, das als Schlafmittel und zur Einleitung einer Narkose heute breite Anwendung findet. Sein Buch ist eine Abrechnung mit der Medizin, die zu einer Abrechnung mit der Naturwissenschaft überhaupt und mit dem naturwissenschaftlichen Zeitalter wird. Er schreibt: «Die Sorge um das Schicksal seiner Völker hat Kaiser Karl V. (1500–1558) in mancher Nacht des Schlafes beraubt.» Die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn damals der Leibarzt dem Herrscher der Welt ein halbes Gramm von dem weissen Pulver (Phenobarbotal) hätte verabreichen können, um «die Sorge betäuben und dem Herrn des Abendlandes einige Stunden Schlaf bringen zu können ».33 Die Dosierung bestimmt darüber, ob Pentothal oder Dormicum oder eines der Präparate eine schlafbringende oder tödliche Wirkung entfaltet. Besteht zwischen dem unmittelbaren Tod und Sedation kein Unterschied? Das eine hat einen klaren, vom Menschen gesetzten Termin, das andere bedeutet ein mehr oder weniger «natürliches» Erlöschen der Lebensfunktionen. Wir sind uns gewohnt zu planen, zu terminieren. Davon zeugen unsere Agenden. Liegt vielleicht auch hier ein Grund weshalb wir so ängstlich auf die Tage unseres Lebens achten?

Philosophen und Ethiker argumentieren von immer gültigen Prinzipien aus. Die Medizin darf sich dieser Wahrheit nicht verschliessen und mit pragmatischen Lösungen nach Belieben oder von Fall zu Fall einer «Patchwork-Ethik» huldigen. «Es gibt keine von den Zwecken des Fortschritts unabhängigen Werte mehr, alles kann im gegebenen Augenblick erlaubt oder sogar notwendig, im neuen Sinn moralisch sein», sagte Joseph Kardinal Ratzinger.34

«Die Heilkunst umfasst dreierlei: die Erkrankung, den Kranken, den Arzt. Der Arzt ist der Diener der Heilkunst. Der Kranke muss zusammen mit dem Arzt sich gegen die Krankheit wehren», so Hippokrates (Epidemien). Geblieben ist, wie in der fernen hippokratischen Zeit, jene Ethik, die den bedingungslosen Einsatz des Arztes im Dienst des Lebens fordert und der auch heute nachgelebt wird. «Das alles ist der Arzt: ein Wissenschaftler, ein Krieger, ein Erbarmer, ein Erzieher, ein Priester und ein Künstler. Sein höchstes ärztliches Wirken und Können setzt da ein, wo die Heilbarkeit der Krankheit aufhört.»35

«Leben und Tod sind eins, so wie der Fluss und das Meer eins sind. In der Tiefe eurer Hoffnungen und Wünsche liegt euer stilles Wissen um das Jenseits.»36 Begnadet der Mensch, der in Demut am Ende seiner irdischen Laufbahn sagen kann: Es war ein gutes Leben, trotz aller Mühsal. Begnadet der Mensch, der in der letzten Lebensstunde umsorgt, begleitet und betreut ist. Meine Gedanken sind bei den hungernden und dürstenden Kindern unserer Welt, bei den Einsamen, Verlassenen, Ausgegrenzten, Gefangenen, die im Sterben liegen. Für Gesunde ist es einfach, Leidende zu trösten mit den Worten: «Im Ja zum Willen Gottes verliert das Leiden seine Macht» (Mutter Basilea).

Begnadet der Mensch, dessen Glaube in der Sterbestunde nicht angefochten ist, der geduldig auf Dein Kreuz schauen kann in der Gewissheit, dass «Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat» (Ps 121,2) und auch noch beten kann «Mein Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst» (Mt 26,39). Begnadet der Mensch, der in der Sterbestunde den leisen Ruf Jesu hört: Komm!


Jesus Christus, der Arzt – Krankheit und Heilung in der Bibel

Roland W. Moser: Jesus Christus, der Arzt. Krankheit und Heilung in der Bibel. (Paulusverlag) Freiburg Schweiz 2012, 191 S.

Der Facharzt Roland Moser versucht im vorliegenden Buch, Medizin und Theologie zusammenzudenken, wobei er in Jesus Christus die göttliche Person sieht, die in ihrem Wirken irdisches und ewiges Heil verbindet. Nach Ausführungen zu Krankheiten im Alten Orient und dem Gott Jahwe als Gott des Lebens im Alten Testament gibt er Einblicke in fünf Heilungsgeschichten des Neuen Testaments, in denen Jesus Christus als Arzt wirkt und durch welche die bisherigen Gedankengänge noch konkretisiert werden. Im Epilog zeigt der Autor auf, dass die durch die biblischen Texte gewonnenen Einsichten auch in unserer Gegenwart von Bedeutung sind, eine bessere Annahme von Leid und Tod ermöglichen und unser Gesundheitssystem humaner machen könnten. (ufw)

1 Aischylos: Zit. nach: Dietrich von Engelhardt: Schmerz und Leiden im Dialog von Natur und Kultur, in: Peter Stulz (Hrsg.): Theologie und Medizin. Ein interdisziplinärer Dialog über Schmerz und Leiden, Heil und Heilung. Zürich, 2004, 14.

2 Am 23. und 24. Mai 2014 fand in Freiburg i. Br. unter der Leitung von Prof. Giovanni Maio, M.A. (Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg i. Br.) das 3. Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin statt. Es trug den Titel «Die Kunst des Hoffens» – Kranksein zwischen Verlust und Neuorientierung.

3 Eduard Kloter: Mit den Menschen sein. Texte eines IKRK-Arztes. Goldau 1985, 89.

4 Hans Goldmann: Vom Geist der Medizin. Rektoratsrede. Berner Rektoratsreden. Bern 1965, 5.

5 Vgl. Hermann Hepp: Zwei Leben – Anspruch und Wirklichkeit. Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. 50. Kongress, München, 23.–27. August 1994. Erweiterte Fassung der Eröffnungsansprache, in: Archives of Gynecology and Obstetrics Volume 257 (1995), XVII–XXXVI.

6 In Anlehnung an das Gebet «Wirke Dein Werk in mir» aus dem Kloster Rheinau (14. Jahrhundert).

7 Zit. nach Goldmann, Vom Geist der Medizin (wie Anm. 4), 8. Wie aktuell der Hippokratische Eid ist, zeigen etwa die Anstrengungen von «Exit» nach einem erleichterten Alterssuizid auf (vgl. Dorothee Vögeli: Exits Spiel mit dem Feuer, in: NZZ 17. Mai 2014, 22).

8 Martin Sutter: Etwas von unserem Überfluss weitergeben, in: Der Bund, Montag, 3. September 2012, 19.

9 Jakob Klaesi: Der unheilbar Kranke und seine Behandlung. Rektoratsrede. Bern 1950, 6.

10 Joseph Kardinal Ratzinger: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen. Freiburg i. Br. 2005, 85 f.

11 Goldmann, Vom Geist der Medizin (wie Anm. 4), 17.

12 Peter Schneider: Wie wird die Welt ohne Menschen mit Down-Syndrom?, in: Der Bund, Mittwoch, 9. April 2014, 28.

13 Giovanni Maio (Hrsg.): Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheiten des Lebens und medizin-technischer Gestaltbarkeit. Freiburg i. Br. 2011.

14 Papst Pius XII: Man muss das Leben zu ertragen lernen, zit. nach: Pauluskalender 2014, 10. April 2014.

15 Emil Angehrn: Hoffnung und Erinnerung – Zur Zeitlichkeit der menschlichen Existenz. Vortrag am 3. Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin. «Die Kunst des Hoffens» – Kranksein zwischen Verlust und Neuorientierung. Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg i. Br. (23.–24. Mai 2014).

16 Hans Zoss (1986–1992), Präsident des Schweizer Hilfsvereins SHV für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene, in: Berichte aus Lambarene und über das Gedankengut Albert Schweitzers. Herausgegeben vom Schweizer Hilfsverein für das Albert-Schweitzer- Spital in Lambarene, Nr. 117, April 2014, 9.

17 Vgl. Anm. 2.

18 Timo Kollbrunner: Lücken füllen mit Privatkliniken. Der Bund, Samstag, 25. August 2012, 21.

19 Peter Bamm: Ex ovo. Essays über die Medizin. München 1973, 166.

20 Peter Ryser-Düblin / Nikolaus Zwicky- Aeberhard / Rahel Gürber: Hilfe beim oder Hilfe zum Sterben? Position des VKAS zur Sterbehilfeproblematik, in: Schweizerische Ärztezeitung (SAeZ) 2008, 89: 28/29, 1245–1249.

21 Roland Moser: Der Mensch braucht Medikamente und Sakramente, in: Kirche heute. Römischkatholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 39 (2010), Nr. 20, 4.

22 Thierry Carrel: Besuch in Hauterive, in: Leben im Kloster Hauterive. Freiburg, Schweiz, 2010, 13.

23 Frank Nager: Gelingendes Alter. Zur Eröffnung des Studienjahres 2009/2010 der Senioren-Universität Luzern. Luzern, 2009, 19.

24 Schweizerischer Katholischer Frauenbund (SKF): «Mit Würde dem Lebensende entgegen». SKFGrundsatzpapier zur Gestaltung der letzten Lebensphase. SKF Schweizerischer Katholischer Frauenbund, Luzern 2011.

25 So Franz Schubert im Kyrie seiner Deutschen Messe.

26 Hans-Georg Gadamer: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt am Main 2010, 36.

27 Roland W. Moser: Jesus Christus, der Arzt. Freiburg 2012, 173.

28 Jan van Ruysbroeck: Seid sanft und demütig von Herzen, zit. in: Pauluskalender 2012, 2. September 2012.

29 Frank Nager: Wissen und Weisheit. Zur Eröffnung des Wintersemesters 2000/2001 der Senioren-Universität Luzern. Herausgegeben von der Senioren-Universität Luzern.

30 Hans-Georg Gadamer: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt am Main 2010, 41.

31 Peter Schneider: Wie wird die Welt ohne Menschen mit Down-Syndrom?, in: Der Bund, Mittwoch, 9. April 2014, 28.

32 Bamm, Ex ovo (wie Anm. 19), 166.

33 Ebd., 5.

34 Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs (wie Anm. 10), 85 f.

35 Klaesi, Der unheilbar Kranke und seine Behandlung (wie Anm. 9), 24.

36 Khalil Gibran: Vom Tod, in: Der Prophet. Olten- Freiburg i. Br. 1992, 59.

Roland W. Moser

Roland W. Moser

Dr. med. Roland W. Moser, Facharzt FMH für Gynäkologie und Geburtshilfe, absolvierte nach seiner Pensionierung 2002 den Studiengang Theologie STh in Zürich. Er beschäftigt sich in Wort und Schrift mit Medizinethik und Spiritualität im Spannungsfeld von Wissen und Weisheit