(M)ein Zugang zur Vielfalt

Patrick Renz ist weit gereist. Seine früheren Tätigkeiten führten ihn rund um die Welt und brachten ihn mit den unterschiedlichsten Kulturen und Menschen
zusammen. Er lässt uns an seinen Erfahrungen teilhaben.

Wir wurden richtiggehend angeglotzt, als wir in einer ländlichen Gegend von Uganda die Kirche betraten. Also eigentlich wurde ich beglotzt, wohl auf Hunderte Kilometer der einzige Weisse. Im Gottesdienst verstand ich kein Wort, aber ich erhob oder setzte mich zur rechten Zeit, machte das Kreuzzeichen am richtigen Ort, mein englisches Vaterunser rhythmisierte harmonisch mit. Wie ging es mir dabei? Fühlte ich mich in grosser Fremde? Oder war dieser katholische Gottesdienst Heimat? Wenn ich mir das Bild dieser vollen Kirche nochmals vor mein inneres Auge halte, steht diese Kirchenerfahrung im ländlichen Uganda für Einheit oder für Vielfalt?

Versuch einer Einordnung

Im Nachdenken über diese und viele weitere Erfahrungen im Ausland und in anderssprachigen Gottesdiensten schält sich ein Gedankenschema mit zwei Dimensionen, eine Art Koordinatensystem, heraus:

1. Fremde und Heimat: In einem fremdsprachigen Gottesdienst fühle ich mich wohl, wenn ich ein Stück Heimat erfahre, und unbehaglich, wenn ich fremd bleibe.

2. Einheit und Vielfalt: Betrachte ich einen Kirchenanlass von aussen, sehe ich Einheit oder Vielfalt.

Das Beispiel Uganda kann ich im entstehenden Koordinatensystem wie folgt einordnen: Die mir bekannten Abläufe und Riten, der Raum zum Gebet, erfüllten mich – gerade in grosser Fremde – mit einem Wohlgefühl, einer Heimaterfahrung. Die versammelte Gottesdienstgemeinde erfuhr ich als eine Einheit, vielleicht eine zu mir andere Einheit, eine Einheit in der Vielfalt der katholischen Kirche.

Heimat in der Vielfalt erfahren

In einer Art rückblickender «Selbstbeobachtung» habe ich 15 Gottesdiensterfahrungen in anderen Kulturen in dieses Koordinatensystem eingeordnet. Etwa den slowakischen Wallfahrtsgottesdienst in Einsiedeln, der eine grosse Vielfalt widerspiegelte und gleichzeitig mit der harmonischen, eingängigen Musik heimatlich anmutete. Oder die Gottesdienste der English Speaking Catholic Mission mit ihrer ganzen Vielfalt, in denen ich nach langen Auslandjahren zurück in der Schweiz wieder Heimat finden konnte. Oder die volle Kirche in Argentinien, in der ich mich aber fremd und allein und zu verschieden von der wahrgenommenen Einheit fühlte.

Als Erstes fällt mir auf, dass mich diese anderskulturellen Gottesdienste grossmehrheitlich Heimat erfahren liessen. Totale Fremde war die Ausnahme. Auffällig ist, dass ich Einheit als fremd, als ausschliessend erfahren habe.

Die Mehrheit der Erlebnisse hat mit Vielfalt zu tun, mit erfahrener Buntheit, Offenheit, mehrsprachig, multikulturell. Heimat habe ich am stärksten in der Vielfalt erfahren. Das macht mich nachdenklich: War es mir denn manchmal nicht zu vielfältig, zu bunt? Dank der Einordnung in das Koordinatensystem habe ich die Begriffe Einheit und Vielfalt mit den stark emotionalen Begriffen Heimat – Fremde in Verbindung setzen können. Oder andersherum: Durch die emotionale Dimension habe ich weitere Aspekte von Einheit und Vielfalt entdeckt. Damit habe ich Vielfalt schliesslich emotional positiv(er) besetzt.

Die Begriffe Heimat – Fremde / Einheit – Vielfalt haben viel mit «sich öffnen» und «sich verschliessen» zu tun. Gottesdiensterlebnisse haben neben der emotionalen Komponente auch relationale Aspekte: Es geht um Beziehungsarbeit zwischen mehreren Subjekten, um die Erfahrung als gemeinschaftliche Pfarrei, um das Intersubjektive. Gemeinsame Liturgie gelingt nur, wenn wir uns bereits im Vorfeld individuell öffnen und mentale Schritte auf eine Begegnung hin machen. Liturgie beginnt weit vor der Liturgie.

Das ist eine schöne Rolle für die Kirche, gerade im Hinblick auf Integrationsfragen mit anderssprachigen Missionen. Die Kirche sollte das Individuum in seinem Gang zum Gottesdienst mit seinen Ängsten und Sorgen, aber auch mit seiner Freude zum Beziehungsgeschehen abholen. Im Sinne von Begegnung miteinander heisst das: Das Fremde anderer Kulturen wird dadurch zur konkreten Chance, dass Kirche überhaupt geschieht.

Patrick Renz


Patrick Renz

Dr. Patrick Renz (Jg. 1965) arbeitete als Betriebswirtschafter in 40 Ländern; er war in der Privatwirtschaft und in der Entwicklungs-zusammenarbeit tätig, u. a. als Direktor von Fastenopfer. Seit 1. Januar 2017 ist er Nationaldirektor von migratio. Er ist Vater von Vera (2) und Noel (3).