Kirche und Mindestlohn

Schuhverkäuferinnen, Taxifahrer, Coiffeusen: Neun Prozent der Arbeitnehmenden in der Schweiz müssen Monat für Monat jeden Rappen zweimal umdrehen, um nur die nötigsten Rechnungen für Lebensmittel, Wohnung, Krankenkasse und Sozialversicherungen begleichen zu können. Alles ausserhalb der laufenden Rechnungen, z. B. fürs Alter oder Spargeld für eine Familie, liegt für niemanden drin, der weniger als 4000 Franken pro Monat verdient. Die Mindestlohninitiative, die am 18. Mai 2014 zur Abstimmung kommt, möchte das ändern. Die Lohnuntergrenze soll bei 4000 Franken pro Monat angesetzt werden (ohne 13. Monatslohn).

Das ist kein hoher Lohn, er deckt nicht viel mehr als die grundlegenden Lebenshaltungskosten eines Erwachsenen in der teuren Schweiz. Um eine Familie durchzubringen, reicht ein solcher Lohn ohne Gang aufs Sozialamt nicht aus. Trotzdem ist die Initiative stark umstritten. Die Gegner der Initiative – Wirtschaftsverbände und liberale Parteien mit einem Millionenbudget – bekämpfen die Einführung einer Lohnuntergrenze verbissen. Warum? Niemand bestreitet ernsthaft, dass ein Lohn zum Leben reichen muss. Es geht den Gegnern des Mindestlohns vielmehr um das starre Dogma des «freien Marktes», der zu keinem Preis eingeschränkt werden darf. Doch das Denkschema des freien Marktes läuft in Gefahr, den facettenreichen Menschen auf seinen Beitrag zum Wirtschaftswachstum zu reduzieren.

Papst Franziskus kritisiert in seinem Mahnschreiben «Evangelii Gaudium » diese Form des Wirtschaftens der Stärkeren als «an der Wurzel ungerecht», da im freien Markt das Recht des Stärkeren ohne Rücksicht auf die Schwächsten der Gesellschaft regiert. Auf die Situation in der Schweiz übertragen gesagt, scheint sich niemand daran zu stossen, wenn eine Schuhverkäuferin nach Feierabend noch in einem Callcenter jobben muss, um die Miete bezahlen zu können. Eine Baisse an der Börse um zwei Punkte aber sorgt in den Tageszeitungen für besorgte Schlagzeilen.

Die Katholische Arbeiterbewegung KAB unterstützt die Mindestlohninitiative. Mit Berufung auf die katholische Soziallehre argumentiert sie, dass im Zentrum wirtschaftspolitischer Überlegungen nicht der Markt, sondern der Mensch stehen soll. Demgemäss sollte ein «gerechter » Lohn nicht auf das rein materielle Überleben beschränkt sein, sondern muss auch das soziale, kulturelle und spirituelle Überleben sichern.

Die Frage nach einem Mindestlohn greift also tiefer als die Frage nach einem Ja oder Nein an der Urne. Es geht im Kern um die Frage, ob wir uns als Gesellschaft lieber markttauglich oder lebensgerecht verhalten wollen.