«Kehr endlich um!»

Tinguely-Brunnen © Kommunikationsdienst Universität Freiburg (CH).

Theologie zwischen Appell, Verfahren und Illusion*

Einleitung – Prozesskategorien der Ethik

Moral und Ethik – das ist in unserer Zeit eine zweischneidige Sache: Einerseits ist Ethik gefragt, weil man in einer komplexen Welt nach Orientierung sucht; andererseits ist sie verpönt, weil man Sorge vor fremden Vorgaben hat; einerseits wird sie an Spezialisten – in Ethikkomitees – delegiert, andererseits ist sie Lebensform, weil die meisten von uns immer wieder danach fragen, wie sie leben wollen und in diesem Leben handeln sollten. Ethik in unserer Zeit ist auch eine Frage der Perspektive. Wenn es um die subjektive Ansprache geht, sind viele abgeschreckt: Wer will denn schon verbindlich von mir etwas verlangen dürfen? Woher überhaupt muss eine Verpflichtung kommen, damit ich sie akzeptiere? Wenn es hingegen anonym um Zustände geht, die erreicht werden sollen, wirkt die ethische Perspektive oft anziehend und wie ein Versprechen: Es sollte gerechter zugehen auf der Welt, menschenwürdiger, solidarischer usw.1

Und was zeichnet die Perspektive einer theologischen Ethik bei all dem aus? Sie steht unter dem Verdacht der Besserwisserei, und genau das ist ihr Problem. Man sollte sich keine Illusionen machen: Es gibt eine solche "besserwisserische" Tradition – die unselige Verbindung von politischem Einfluss der Kirche und moralischer Rede, vom Vormachtanspruch des Theologischen gegenüber allen Teilwirklichkeiten, von naturrechtlich unterlegten Teleologien in der konkreten Wirklichkeit, die für den wahrnehmenden und wertenden Zugang des Subjekts gar keinen Raum lassen.2 Aber es scheint auch eine andere Traditionsgeschichte der theologischen Ethik zu geben, die sich an sogenannten Prozesskategorien festmacht – Versöhnung, Vergebung, Wiedergutmachung, natürlich auch Nachfolge – und eben auch das Thema dieser Vorlesung: Umkehr. Kennzeichnend für diese "andere" Begriffsgeschichte der theologischen Ethik ist es, dass sie vermeintlich einladender, irgendwie offener, moderneverträglicher wirkt. Alles, was nach Prozess klingt, erscheint erst einmal gut. Weil da Bewegung drin zu sein scheint, Diskursivität, Dynamik – es liegt nicht alles von vornherein fest, man kann vielleicht noch mitverhandeln am Ergebnis. Das ist zumindest die Hoffnung, wenn man mit solchen Begriffen ethisch umgeht.3

Ich möchte im Folgenden den Begriff der Umkehr genauer anschauen und danach fragen, was er leisten kann und welche Möglichkeiten er bietet, dass die Theologie heute etwas sagen kann, was Menschen wirklich trifft und ihnen Orientierung bietet. Das soll in drei Etappen geschehen: Wenn theologisch von Umkehr gesprochen wird, dann, so die These, zeigt sich Theologie in drei Facetten: als Appell, als Verfahren und als Illusion. Alle drei Aspekte legen etwas offen vom semantischen Potenzial der theologischen Rede von Umkehr; alle drei sind in der Geschichte des Christentums in unterschiedlicher Gewichtung zum Tragen gekommen, und für alle drei gibt es Anknüpfungspunkte in unserer zeitgenössischen Lage. Anschliessend kann man fragen: Was müsste geschehen, damit die Rede von Umkehr heute wirklich zündet? Was kann sie erreichen?

1. Theologie als Appell – "Kehrt endlich um!"

Am Thema der Umkehr kann man gut beobachten, wie Theologie im Modus des Appells – des Aufrufs – formuliert wird. "Kehrt endlich um!", der Titel dieser Vorlesung, ist inspiriert von diesem Genus des Theologie- Treibens. Aus dem Fundus des christlichen Glaubens – der Botschaft des Evangeliums – wird der Impuls für einen Aufruf zur umfassenden gesellschaftlichen Umgestaltung bezogen. Gar von einer "Theologie der Umkehr" ist die Rede – fast schon klingt der Anspruch durch, Umkehrprophetie für unsere Zeit zu sein. Beispiele solcher Theologie häufen sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie greifen Modelle einer kritischen Gesellschaftsanalyse in marxistischer Tradition auf oder knüpfen mehr oder weniger lose daran an. Darin zeigen sie sich als Symptome einer ideologischen Grosswetterlage, die durch Blockkonfrontation und weltanschauliches Hegemoniestreben geprägt ist. In einer solchen Lage wird die christlich-kulturelle Grundprägung einer Gesellschaft zum systemstärkenden Gewicht, zu einem Stabilisierungsfaktor des Status quo. Das kann man als Provokation auffassen und darauf drängen, dass auch benannt wird, was alles nicht stimmt innerhalb des vermeintlich so stabilen, selbstgewissen eigenen Lebens- und Gesellschaftsmodells christlich-abendländischer Herkunft; dass benannt werde, wo diese Selbstgewissheiten des Westens zu Stillstand und dazu geführt haben, dass Dynamiken, die dem christlichen Glauben doch innewohnen, zum Erliegen gekommen und in den Fassaden einer "bürgerlichen Religion" erstarrt sind.4

Ein solcher Sinn von Umkehr findet sich etwa bei Helmut Gollwitzer, der Theologie als Einspruch versteht, als Widerspruch, offen und mutig formuliert gegenüber den Instrumentalisierungsanmassungen der Gegenwart. "Forderungen der Umkehr ", so heisst ein wichtiges Buch von ihm aus dem Jahr 1976.5 Die damit gemachte Ansage zieht scharfe Kanten: Die Einladung zur Umkehr, so Gollwitzer, ist, gesellschaftlich und nicht nur individualistisch verstanden, die Aufforderung zum Bruch mit der "Komplizenschaft" der Christen – nämlich dem Eingebundensein in die Klassengesellschaft. Und aus der Zusammenschau von Reich-Gottes-Verheissung und Gesellschaftsanalyse seien die "Forderungen der Umkehr" eben ganz klar: Es geht um die "Aufdeckung von Unfreiheiten, Herrschaftsstrukturen, Zensuren und Sanktionen in dieser Gesellschaft".

Eine solche Theologie der Umkehr, mittlerweile bereinigt um die Anleihen beim Vokabular marxistischer Gesellschaftsanalyse, lebt bis heute fort: in vielen christlichen Basisgruppen, in Teilen der ökumenischen Bewegung, in befreiungstheologisch inspirierten Zirkeln, mehr und mehr auch in den verfassten Organen der römisch-katholischen Kirche.

Und man kann feststellen: Dieser Impuls zur Umkehr lebt fort auch ausserhalb der Kirchen – es scheint einen gesellschaftlichen Resonanzboden zu geben für ein solches generalisierendes Verständnis von Umkehr. Das Echo vernimmt sich als Aufforderung zu einem alternativen Lebensstil, zu einem nachhaltigen Umgang mit den Gütern der Schöpfung, den natürlichen Lebensgrundlagen etwa. Auch hier geht es darum, den "falschen Weg" zu verlassen, einen "Irrglauben" einzugestehen, eben ganz neu anzufangen. Es scheint fast, als kehrten die einst religiösen Umkehrrufe in säkularisierter Form, aber nicht minder appellativ – auffordernd – wieder.

Umkehr als biblische Kategorie

Als Theologe ist man nun vor der Frage: Bestärkt nicht die biblische Rede von der Umkehr ein solches umfassend- universales Verständnis von Umkehr? In der Prophetie zielt Umkehr auf eine existenzielle Umwendung des Menschen und auf eine Abwendung von falschen Wegen hin zum Wandel vor dem lebendigen Gott. Es geht um den Wiedereintritt in das ursprüngliche Gottesverhältnis. Da gibt es Aussagen mit scharfer Kritik an der blinden Heilsgewissheit des Volkes, das meint, keiner generellen Busse zu bedürfen. Amos sieht, weil in Israel keine Umkehr geschehen ist, das Volk dem Gericht verfallen, nur einem "Rest" könne Gott vielleicht gnädig sein (Am 4,6–12; Jes 6,10; 9,12 f.). Umkehr wäre die unbedingte Zuwendung zu Gott und die Abkehr von allen fremden Göttern oder menschlichen Hilfsmächten. Bei Hosea ruft der Prophet Israel zu einer Umkehr ins Gottesverhältnis der Wüstenzeit (Hos 2,8 f.). Dabei schafft Gott noch selbst, weil das Volk aus eigener Kraft gar nicht umkehren kann, die Möglichkeit zu solcher Umkehr. Die Akzentuierungen unterscheiden sich – mal ist es, wie hier gesehen, eher die Umkehr ins wahre Gottesverhältnis, mal liegt der Akzent auf der Abkehr von allem Widergöttlichen und Bösen wie bei Jeremia oder Ezechiel. Das hat zwar, wie der Autor des "Lexikon für Theologie und Kirche" formuliert, etwas "Konkreteres und Anpackenderes als das mehr abstrakte ‹Umkehren› zu Gott",6 allerdings: Der Geschmack des Ungreifbaren, des etwas Verschwommenen, was das denn nun heute bedeuten soll für die konkrete Orientierung eines Lebens inmitten der Spannungen sozialer Wirklichkeit, bleibt doch bestehen.

Im Neuen Testament tritt das Wortfeld im johanneischen und paulinischen Schrifttum eher zurück, wenn auch der Sache nach Aspekte vorhanden sind – etwa das "Glauben" bei Paulus. Bei Johannes dem Täufer hingegen nimmt es einen zentralen Platz ein: Er sieht ein Israel vor sich, das sich im Heil wähnt, aber dennoch vom Gericht bedroht ist (Mt 3,7–10). Nur entschiedene Abkehr vom bisherigen Weg, die "Taufe der Umkehr" kann noch vor dem Schlimmsten bewahren (Mk 1,4) und den Weg zur finalen Rettung öffnen. Bei Jesus lässt sich nochmals eine Akzentverschiebung beobachten: Umkehr ist die entschiedene Hinwendung zu Gott, aber der Akzent liegt auf der Verheissung des Geschenks der Gottesherrschaft, der Basileia-Verkündigung. Lukas schliesslich gibt schon einen Ausblick auf die spätere kirchengeschichtliche Karriere der Umkehrforderung: Er ordnet sie mit Taufe, Sündenvergebung und Empfang des mit Jesus gekommenen Heils zu einer Abfolge zusammen, die den Weg des Christseins beschreiben soll (Apg 2,38; 3,19; 5,31 u. a.), und gibt einen Geschmack für die Verfahrensförmigkeit, das prozedural Geordnete, mit dem die kirchliche Gemeinschaft die Umkehrforderung später kanalisiert.

Erste Zweifel – der Richtungsverlust moralischer Orientierung

Eine kritische Frage drängt sich allerdings immer stärker auf: Wenn im christlichen Sinne, bewehrt durch das biblische Zeugnis, so gewiss und mit so breitem Anspruch von "Umkehr" die Rede ist, stellt sich bei der Aktualisierung dieses Anspruchs in unsere Gegenwart die Frage nach dem Woher und Wohin: Wohin soll man denn eigentlich umkehren – und von wo aus geschieht das, also welche Richtung soll verlassen werden? Ist das denn heute so klar? Trifft es nicht ein heutiges Lebensgefühl sehr stark, dass dieses "Wohin" so nicht mehr klar gegeben ist – anders als vielleicht in den 1970er-Jahren? Liegt denn dann die Theologie nicht irgendwie falsch mit dem globalen Ruf nach Umkehr? Zumindest in ihrer emphatisch-bewegten Attitüde der Befreiungstheologie? Weil zu realisieren ist, dass die Möglichkeitsspielräume sich so fulminant verändert haben gegenüber der Gesellschaft der klassischen Industriegesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre. In der war es relativ überschaubar: Es gab oben und unten, erwünschten Aufstieg per Bildung, kaum Abstieg, es gab die Industrie mit riesigen Wertschöpfungsmöglichkeiten, Gewinninteressen, für die Kritischeren UMK E H R vielleicht noch den militärisch-industriellen Komplex, gegen den man eine Sitzblockade machen konnte. Ich persifliere etwas, um klarzumachen: Gut und richtig, böse und falsch – das war gesellschaftlich weitgehend eindeutig verteilt. Man wusste, wo man stand und in welche Richtung zu handeln war. Gefühlt ganz weit weg waren jene Entwicklungen und Trends, die nur wenig später die Landkarte moralischer Orientierung überholt erscheinen liessen – wirtschaftliche Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung.

2. Theologie als Verfahren – tut Busse!

Eigentlich ist die Rede von Umkehr – anthropologisch – die Einsicht, dass der Mensch bei aller Fehlbarkeit zur Selbstkorrektur in der Lage ist; und – theologisch – die Chiffre, dass er auf geschenkte Vergebung angewiesen bleibt. Die historische Entwicklung der Umkehrtheologie folgte hingegen ihrer eigenen Logik: Es fand eine Institutionalisierung der Umkehr statt – in Gestalt fest ritualisierter und kirchlich verwalteter Sakramente (Taufe, Busse, Beichte), diverser Busszeiten und -formen (Fastenzeit usw.). Ausserdem tritt, wie Konrad Hilpert es herausgearbeitet hat, eine semantische Umakzentuierung hinzu, nämlich durch die interpretatorische Zuhilfenahme straf- und vertragsrechtlicher Kategorien. Dadurch tritt der Gedanke der individuellen Besserung und der Genugtuung gegenüber den von individueller Schuld Betroffenen in den Vordergrund – das findet man etwa, wenn in der Beichte die Wirksamkeit der Lossprechung an die erfolgte Einsicht und das Gelobnis der Besserung – die Reue – geknüpft wird.7

Was bedeutet eine solche Juridisierung und Prozeduralisierung des Themas "Umkehr" für die Sache? Nun, es finden Verengungen der Frömmigkeitspraxis statt, vor allem eine weitgehende Ablösung der Busswerke vom Gedanken einer grundsätzlichen Neuorientierung, aber auch die Abwertung der Alltagsfrömmigkeit gegenüber den ausserordentlichen Lebensformen der Ordensmitglieder – weil die ja vermeintlich aufgrund ihrer gottgeweihten Lebensform per se Genugtuung leisten und damit Umkehr geleistet haben.

Die nachtridentinische Katechetik und Moraltheologie versucht dem entgegenzuwirken, indem sie Umkehr als komplexe Handlung neu interpretieren: bestehend aus unterschiedlichen, voneinander zu trennenden Dimensionen. Das sind: a. Selbsterkenntnis (Einsicht in die eigene Schuldfähigkeit sowie deren sprachliche Formulierung), b. Distanzierung (Reue), c. Wiedergutmachung (Sühne) und d. gezielte Selbstverpflichtung für die Zukunft (Vorsatz). Ein wesentliches Problem wird damit aber immer noch nicht gelöst: Es stehen weiterhin konkrete Einzeltaten im Fokus, nicht die Handlungsebene der Einstellung und Lebensausrichtung einer Person. Das wird im Zweiten Vatikanischen Konzil dann zwar vorgenommen, aber es bleibt vorerst offen, wie nachhaltig dieser Korrekturversuch einer langen Tradition gewesen ist.

Das Recht als ein Gefäss für den Glauben?

So bleibt ein zwiespältiges Zwischenfazit: Wo die Theologie, wie hier am Beispiel der Umkehr gesehen, zu einem Verfahren wird, beschreibt sie beinahe den Gegenentwurf zum grossen, prophetischen Bussappell, bei dem es auf eine viel mehr als individuelle Suche nach einem grundsätzlich neuen Lebenshorizont ankommt. Ähnliches könnte man zeigen etwa anhand der Sakramente zu anderen theologischen Themen und Begriffen. Was bleibt von einer so grossen Sache wie dem Umkehrruf, wenn er heruntergedampft wird auf einen Verfahrensweg, kanalisiert im pastoralen "Massengeschäft"? Wirkt die Jurisidierung da nicht kleinkariert, zugleich anmassend, weil sie die Grösse des Umkehrzieles – die neue Gemeinschaft in einem erneuerten Gottesverhältnis – real in Aussicht stellt? Man könnte sagen: "Wie ein Tiger gesprungen, wie ein Bettvorleger gelandet …"

Diesen Zusammenhang von Umkehr und Recht beziehungsweise Verrechtlichung könnte man freilich auch anders auslegen. Ein Blick auf den Rechtsstaat führt zu einem Vergleich. Denn so, wie es im Rechtsstaat einen unglaublichen Freiheitsgewinn für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet, dass der Obrigkeit Genüge getan ist, solange man sich ans gesetzte Recht hält und nicht noch das Bekenntnis einer passenden inneren Einstellung abverlangt werden muss, so könnte doch auch in der Kirche der Verfahrensweg bei der Umkehr eine Gewähr für die Freiheitsverheissung an die Kinder Gottes sein … Schnell wird deutlich, wo die Dinge nicht übereinander gehen, weil unterschiedlich konturierte Begriffe von Freiheit im Spiel sind. Der Vergleich versagt. Die in der Busse formalisierte kirchliche Umkehrpraxis versucht einen Spagat, vielleicht ein Paradox: Es ist der Versuch, Juridisierung und Spiritualisierung zu vereinen. Über das im Subjektiven stattfindende Geschehen zwischen Gott und Gläubigen wird rechtsförmig gesprochen – nach Kriterien der Nachvollziehbarkeit, eines formalen Rahmens, der Allgemeingültigkeit. Aber versagt nicht Recht, wo es um das Formlose geht, den "Deus semper maior", seine zuvorkommende, unfassbare Güte und Gnade? Der freiheitliche Rechtsstaat ist viel bescheidener in seinen Ansprüchen: Freiheit ist für ihn die Bedingung der Möglichkeit, damit Menschen ihre Vorstellungen eines guten Lebens ins Werk setzen können. Christlicher Glaube hingegen holt weiter aus: Er ist selbst eine solche Utopie des Guten.

3. Theologie als Illusion – Umkehren als "art pour l’art"?

Ich komme zu meinem dritten Aspekt – Theologie als Illusion. Es ist vielleicht der sensibelste Punkt am ganzen Thema. Es klingt pessimistisch, für manchen vielleicht gar defätistisch. Müssen wir als Theologen nicht etwas Konstruktives sagen, mit viel Gewissheit und Zuversicht? Meine Antwort wäre: Theologie ist das Nachdenken über den Glauben und natürlich nicht ohne Glauben vorstellbar, aber es ist doch nicht dasselbe wie der Glaube. Der Glaube selbst kennt ja schon den Zweifel: Die Mystik zeigt, dass je tiefer der Glaube, desto bodenloser auch der Zweifel werden kann. Umso wichtiger ist es für die Theologie, eine kritische Instanz zu sein, sich alles zu denken trauen, weil dem Glauben letztlich der schnelle Konsens wenig nützt. Und so ist die Frage offen zu stellen: Wenn man nach dem bisher Gesagten ein Zwischenfazit ziehen würde – wirkt die Theologie dann nicht ein bisschen wie eine Illusion? Denn es ist doch bedenklich, wenn die Rede von Umkehr zwischen – einerseits – der ganz grossformatigen, politischen Überfrachtung (Umkehr = Komplizenschaften eingestehen) und – andererseits – einer aufs Individuum enggeführten Juridisierung letztlich nur noch eine esoterisch anmutende Luftblase wird, an der zwar ein Teil der Gläubigen ganz entschieden festhält, welche aber nicht mehr verankert ist in den sozialen Kontexten, den zeitgenössischen Plausibilitäten, den Handlungsmöglichkeiten unserer heutigen Welt.8

Theologische Rede wirkt unter solchen Bedingungen wie eine religiöse "art pour l’art", sie wird zu einer manierierten Spielerei. An dieser Stelle hilft mir das Bild, das ein Werk von Jean Tinguely, diesem Freiburger Künstler von Weltruhm, nämlich einen seiner Brunnen, ganz im Zentrum der Stadt, zeigt:

"Nouveau Réalisme" nennt man seine Kunstrichtung. Ich lade Sie ein, den Linien des Brunnens nachzugehen. Wenn ich den Bewegungen des Wassers, der Rohre und Leitungen dieses Artefakts folge, komme ich stark in Bewegung, muss Wendungen und Kurven mitvollziehen, aber ich bekomme doch kein klares Bild darüber, woher die Bewegung kommt und wohin sie führt. "Nouveau Réalisme" – eine realistische Charakterisierung zum Status der Sinn- und Orientierungsfragen in unserer Zeit? Ein Sinnbild vielleicht auch für den illusorischen Charakter der theologischen Rede von Umkehr: die Umkehr als eine vehement eingeforderte Geste, durch Verfahren geschützt, ähnlich der soliden Mechanik eines der schönen Brunnen von Tinguely – aber unterm Strich doch eher das Werkeln mit einer Gerätschaft, die, losgelöst vom Getriebe der Welt, ihr autopoietisches Spiel vollzieht? Es wäre eine Umkehr ins Nirgendwo, die Umkehr ohne Richtung, als reine Geste, als ein Spiel … Was der Kunst erlaubt ist, wird für die Theologie schnell problematisch.

Was sind nun die tieferen Gründe dafür, dass diese christliche Rede von Umkehr heute so prekär erscheint? Besonders auf drei Aspekte ist ein besonderes Augenmerk zu legen: Es sind dies die Frage nach der Zeitlichkeit der Umkehr, die Frage danach, wie Umkehrprozesse eigentlich genau ablaufen, und schliesslich ein Blick auf die eigentliche Aufgabe der Ethik.

Die Zeitstruktur von Umkehr

"Umkehr zur Zukunft", so nennt der Theologe Jürgen Moltmann eines seiner Bücher.9 Die Zeitdimension wird darin – wie das auch etwa bei Johann Baptist Metz der Fall ist – als ein Thema der Theologie, und deren eigentliches Thema, erschlossen. Theologische Rede hat von der Eschatologie her zu denken, und Eschatologie, das ist nicht irgendein Traktat der Dogmatik, sondern die mit dem christlichen Glauben gemachte Ansage einer Befristung der Zeit von ihrem Ende, von Gott her. Unter dieser Ansage sind die Verhältnisse in der Gegenwart anders zu sehen, umzugestalten, und zwar von Grund auf. "Umkehr" wird von der eschatologischen Struktur des Glaubens her nötig – und möglich. "Bürgerliche Religion ", so ein Diktum von Metz, ist dann Verrat an der Botschaft des Christentums, Umkehr wird zum zwingenden Skript gläubiger Existenz heute.

Eine Zukunft, zu der man umkehren soll – wer so begriffssicher mit der Zeit hantiert, handelt sich aber auch Risiken ein. Es sind etwa Einwürfe, die man mit Aleida Assmann machen kann: dass die Zeitordnungen durcheinander geraten sind, uns die "Zukunft abhanden" gekommen in der Moderne, "Modernisierung" etwas Brüchiges ist, weil sie ihre Verheissungen nicht eingehalten hat – etwa, indem die technisch ermöglichte, immer grössere Beschleunigung eben nicht Entlastung des Subjekts, sondern immer weiterer Beschwerung in Form von Entscheidungsdruck und Informationsstress bedeutet; indem Prozesse der Rationalisierung eher Komplexität erhöhen, vormals intakte Sozialgefüge durch den neuen Mobilitätsdruck aber solche Komplexitäten gar nicht mehr verarbeiten können.10 

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* Der hier abgedruckte Text ist eine leicht gekürzte Fassung der Antrittsvorlesung von Prof. Dr. Daniel Bogner, Lehrstuhl für Allgemeine Moraltheologie und Theologische Ethik an der Universität Freiburg (Schweiz), vom 9. Oktober 2014.

 

1 Diese Unterscheidungen werden ausführlich erörtert bei: Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik. Darmstadt 2003/52013.

2 Vgl. hierzu Karl-Wilhelm Merks: Gott und die Moral. Theologische Ethik heute. Münster 1998.

3 Den Begriff der Prozesskategorie in ethischer Hinsicht zu verwenden, ist eine Inspiration, die ich einer Debatte verdanke, die bislang und unter ganz anderen Vorzeichen vor allem in den Sozialwissenschaften geführt wird. Vgl. Hans Joas: Gefährliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung, in: Karl Gabriel / Christel Gärtner / Detlef Pollack (Hrsg.): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik. Berlin 2012, 603–622.

4 Vgl. vor allem Johann Baptist Metz: Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums. Mainz-München 1980.

5 Helmut Gollwitzer: Forderungen der Umkehr. Beiträge zur Theologie der Gesellschaft, München 1976, besonders S. 224.

6 Claus-Peter März: Art. Umkehr. I. Biblischtheologisch, in: LThK3 Bd. 10, Sp. 364 ff.; hierauf beziehen sich auch die weiteren Ausführungen des Abschnitts. 8 Auf die realen Gefahren von kulturell nicht mehr rückgebundenen Glaubensüberzeugungen verweist Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religion. München 2010. Aber auch jenseits des politisch gefährlichen Fundamentalismus können aus solcher Entwurzelung Gefahren erwachsen, nämlich die der dogmatischen Trivialisierung ursprünglich dichter theologischer Begriffe und Kategorien.

7 Vgl. Konrad Hilpert: Art. Umkehr. II. Theologisch- ethisch, in: LThK3 Bd. 10, Sp. 366 f.

8 Auf die realen Gefahren von kulturell nicht mehr rückgebundenen Glaubensüberzeugungen verweist Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religion. München 2010. Aber auch jenseits des politisch gefährlichen Fundamentalismus können aus solcher Entwurzelung Gefahren erwachsen, nämlich die der dogmatischen Trivialisierung ursprünglich dichter theologischer Begriffe und Kategorien.

9 Jürgen Moltmann: Umkehr zur Zukunft. München- Hamburg 1970

10 Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013.

Daniel Bogner

Daniel Bogner

Prof. Dr. Daniel Bogner ist seit 2014 Professor für Moraltheologie und Theologische Ethik an der Universität Fribourg/ Schweiz. Er promovierte in Fundamentaltheologie und habilitierte in Münster in Sozialethik, war Referent für Menschenrechtsfragen im Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz.