Angenommen, der Gesellschaftstheoretiker Karl Marx wird zum Nachfolger von Papst Franziskus gewählt. Marx würde dessen lebens- und praxisbezogenen Entscheidungsstil, dessen Art, Menschen zu begegnen, wohl fortsetzen wollen: «Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.» (Marx/Engels 1845)
Wahre Nahrung für die Seele
Das hiesse für «Brückenbauer» Marx zum Beispiel: Nicht die Verpflichtung auf die eucharistische Lehre der Transsubstantiation prägt das religiöse und «weltliche» Verhalten der Kirchenglieder, sondern die Erfahrung, als Frau, Mann, als Jung oder Alt, unabhängig von Stand und geschlechtlichem Selbstverständnis von der Kirche ernst genommen und auf jeder Ebene einbezogen und gleichberechtigt zu sein, unterlegt die Gewissheit, Gott «nähre» und unterstütze die Menschen, jede und jeden. Papst Marx sähe sich bestätigt durch die fundiert erforschte Einsicht, dass nicht die religiösen Lehrsätze der Eltern das Gottesbild des Kindes gestalten, sondern dass das tägliche Erleben der Bezugspersonen das Kind ahnen lässt, ob Gott wohlwollend und gerecht oder aber beispielsweise ein kleinlicher Sadist sei, der sich an den Buchstaben hängt (siehe auch 1 Kor 13,11).
Kein ferner Gott
«Jesus, der Menschensohn» – vielleicht des Nazareners Selbstbezeichnung (Mt 11,18 f, Lk 9,58 usw.) – würde vermutlich bei Papst Marx eine bevorzugte Titulierung werden, weil er wüsste: Das Menschliche an Jesus überzeugt auch heutige Erdenbewohnerinnen und Erdenbewohner am ehesten; dass da ein liebender und weltzugewandter Gott nicht über den Wolken schwebt, sondern in Freuden und Nöten spürbar nahe ist.
Der Bischof von Rom namens Marx verzichtete auf Überhöhungen wie «Stellvertreter Christi». Denn der Sozialkritiker verpönte es, Menschen etwas vorzugaukeln, was nur Gott selber zu sein und zu tun in der Lage ist. Das hätte Karl Marx nämlich inzwischen gelernt: Religion braucht nicht zwingend Opium für das Volk zu sein.
Toni Häfliger, Ostermundigen