«Isabelle, was ist deine Sehnsucht?»

Jungen Menschen steht die ganze Welt offen. Diese grosse Freiheit beinhaltet für sie auch, zu entscheiden, wer sie sein möchten. Im Findungsprozess können Auszeiten und geistliche Begleitung unterstützend wirken.

Ein Themenaspekt der kommenden Bischofssynode ist die Frage nach der Berufungsunterscheidung junger Menschen. Wie können sie ihre Berufung entdecken? Isabelle Allmendinger hängte ihren Arztberuf für ein Jahr an den Nagel und lebt und arbeitet in der «Zukunftswerkstatt SJ»* in Frankfurt am Main.

SKZ: Wie haben Sie die Zukunftswerkstatt entdeckt?
Isabelle Allmendinger: Auf der Suche nach Exerzitienangeboten für junge Menschen bin ich auf die Homepage der Zukunftswerkstatt gestossen. Ich kannte die Jesuiten aus der Zeit meines Studiums in Basel, wo ich mich in der lebendigen Hochschulgemeinde einbringen konnte und erste Berührungspunkte mit der ignatianischen Spiritualität hatte. Im letzten Sommer machte ich Einzelexerzitien in der Zukunftswerkstatt, wodurch vieles ins Rollen kam.

Was bietet die Zukunftswerkstatt jungen Menschen?
Jungen Menschen steht heutzutage buchstäblich die ganze Welt offen. Bei allen Chancen, die darin liegen, bringt diese enorme Freiheit aber auch eine grosse Herausforderung mit sich: Junge Menschen entscheiden, wo und wie sie ihr Leben gestalten, und tragen folglich die Verantwortung für dessen Gelingen und Misslingen. Dabei geht es nicht nur um die Wahl von Studium und Beruf, sondern sie beginnt schon – und das darf nicht unterschätzt werden – bei der eigenen Identität: Wer bin ich? Wer möchte ich sein und wer könnte ich sein? Auf genau diese Spannung zwischen enormer Freiheit, Verantwortung und auch grosser Verunsicherung antwortet das Angebot der Zukunftswerkstatt, indem sie den Freiraum bietet, die eigene Befindlichkeit wahrzunehmen, Unsicherheiten und Ängste zuzulassen und sich besser kennen zu lernen. Dazu bietet die Zukunftswerkstatt Exerzitien und Auszeiten unterschiedlicher Länge an. Eine feste Tagesstruktur mit Gebetszeiten, Gleichgesinnte, die ebenfalls auf der Suche sind, und geistliche Begleiter geben dem Ganzen eine Fassung. Die Erfahrung, dass Austausch mit Gleichgesinnten sehr wertvoll ist, führt dazu, dass in immer mehr Städten mit Unterstützung der Zukunftswerkstatt sogenannte Magis-Gruppen (lat. magis, mehr) entstehen. In diesen Gruppen ist Raum für Gemeinschaft, Austausch über Glaubensthemen, die eigene Suche und das Gebet. So wirkt die Erfahrung, die in der Zukunftswerkstatt gemacht wurde, auch über diese hinaus. Für mich sind diese MagisGruppen wie Keimzellen eines Aufbruchs in der Kirche.

Was hat Sie bewogen, in der Zukunftswerkstatt mitzuwirken?
Während meiner Exerzitien spürte ich, dass ich als Ärztin nicht glücklich war. Die Strukturen verhinderten in meinen Augen die wirkliche Begegnung mit den Menschen. Aber genau diese Begegnung war der Grund, warum ich Ärztin werden wollte. Mir wurde klar, dass ich, um wirklich fruchtbar für andere sein zu können, selbst das Ruder in die Hand nehmen muss und nicht darauf warten kann, dass sich die Strukturen ändern. Durch die Exerzitien ist in mir das Vertrauen gewachsen, dass Gott mich in eine grössere Freiheit ruft. Ein Zitat des Jesuitenpaters Alfred Delp (1907–1945) brachte dies für mich in besonderer Weise auf den Punkt: «Man muss die Segel in den unendlichen Wind Gottes stellen, dann erst werden wir spüren, zu welcher Fahrt wir fähig sind.» Aus dieser Freiheit heraus kündigte ich meine Stelle als Ärztin, löste meine Wohnung auf und setzte die Segel neu.

Was gehört zu Ihren Aufgaben?
Alle meine Aufgaben haben ein Ziel: Räume für Suchende bereiten. Die Ausgestaltung dieses Zieles hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. Anfangs war ich für die Gästebetreuung zuständig. Ich habe die Zimmer einladend hergerichtet, beim Ankommen eine erste Orientierung gegeben und mich um die Mahlzeiten gekümmert. Später kamen auch inhaltliche Aufgaben dazu. Ich lernte Gebetszeiten zu leiten oder Impulse zu geben. Inzwischen leite ich mit den anderen Gastmitarbeitern die Auszeitwochenenden und betreue Magis-Gruppen, während sich P. Clemens Blattert SJ um die geistliche Begleitung und die Gottesdienste kümmert und natürlich für das Gesamtkonzept steht. Ganz viel funktioniert über Befähigung: Wir erleben ein Konzept, lernen es verstehen und werden Schritt für Schritt dahin geführt, es selbst auszugestalten. Erleben – verstehen – selber machen!

Im Abschlussdokument des Vorbereitungstreffens zur Bischofssynode vom 19. bis 24. März heisst es: «... viele junge Menschen wissen nicht, wie sie den Prozess der Berufung bewusst angehen sollen.» Die jungen Synodenteilnehmer formulieren auch ihre Erwartungen an einen Wegbegleiter und sehnen sich nach einer Kirche, die ihnen hilft, ihre Berufung zu finden.

Dank der Zukunftswerkstatt verfügen Sie über einen gewissen Erfahrungsschatz. Wie können junge Menschen aus Ihrer Sicht den Prozess der Berufung angehen?
Wichtig ist zuallererst, sich zu fragen: Wie geht es mir? Bin ich glücklich, zufrieden? Wo hat sich vielleicht etwas verhakt? Wo fehlt mir etwas? Tatsächlich glaube ich, dass Exerzitien oder das Gespräch mit einer geistlich erfahrenen Person ein erster, guter Schritt sind. Unternehmen suchen sich Unternehmensberater, um Erfolg zu haben. Wer Lust auf mehr Leben hat und Hinweise sucht, wie das gelingen kann, für den sind zum Beispiel die Jesuiten hilfreiche «Lebens-Unternehmensberater» – so was wie die McKinseys, eben fürs Leben. Zentral scheint mir auch, sich bewusst zu machen, dass der Sog des Alltags sehr stark ist und die Tendenz, den eigenen Sehnsüchten nicht zu trauen, immer grösser wird, je länger die Erfahrung, dass da «mehr» sein könnte, zurückliegt. Aus diesem Grund versuchte ich, zwischendurch im Alltag innezuhalten, um an meinen Fragen dranbleiben zu können, was nicht leicht war. Aber die Frage «Isabelle, was ist deine Sehnsucht?», die mein Begleiter öfters stellte, forderte mich heraus, das war entscheidend.

Welche Fähigkeiten sollte aus Ihrer Sicht ein Wegbegleiter aufweisen?
Die ganze Welt steht jungen Menschen offen und gleichzeitig sind sie von den vielen Möglichkeiten überfordert. Deshalb scheint es mir wichtig, sich als Begleiter mit derselben Weite auf diese Suche einzulassen. Enge «Zielerwartungen» oder gerade in Zeiten, in denen es an Priestern und Ordensleuten mangelt, auf Priesternachwuchs oder Ordenseintritte zu hoffen, sind Gift für diesen Prozess. Ganz besonders wenn es um Ordens- oder Priesterberufungen geht, sind die Antennen der Suchenden hoch empfindlich auf «Vereinnahmung» eingestellt. Meine Empfehlung ist daher die Haltung einer freilassenden Offenheit. Entscheidend im Findungsprozess ist das, was sich aus der Beziehung zwischen Gott und dem Suchenden entwickelt. Ich erwarte von einem Begleiter, dass er sich bewusst ist, dass es einzig seine Aufgabe ist, die Beziehung zwischen «Schöpfer und Geschöpf» lebendig zu halten. Der Begleiter sollte sich zudem selbst als Suchenden und Betenden verstehen. Und nicht zuletzt braucht es einen ganz weiten Blick auf den Berufungsbegriff. Die meisten Angebote der Berufungspastoral der Kirche setzen bei der Frage an, ob man einen Beruf in der Kirche ausüben möchte. Diese Frage ist meiner Meinung nach viel zu hoch angesiedelt. Ich persönlich fühle mich davon nicht angesprochen, obwohl ich mich täglich mit der Frage beschäftige, wo Gott mich in dieser Kirche brauchen könnte. Gerade Ordensgemeinschaften haben aufgrund der je eigenen Suche der Einzelnen die besten Vorraussetzungen, um junge Menschen bei ihrer Suche zu unterstützen. Aber ich sehe es auch als Aufgabe der Kirche, da uneigennützig präsent zu sein.

Was machen Sie nach dieser Zeit?
Auch wenn ich noch nicht genau weiss, wie es weitergeht, habe ich die Gewissheit, mit dem Schatz an Erfahrungen und dem gewachsenen Vertrauen überall fruchtbar sein zu können. Sollte ich wieder als Ärztin arbeiten, würde ich auf Freiräumen beharren, um meinen Patienten wirklich Ärztin und Seelsorgerin sein zu können. Ich möchte mich weder im Krankenhaus noch in der Kirche mit den Gegebenheiten abfinden, wie sie sind, sondern gemeinsam mit den Verantwortlichen schauen, was der Lebendigkeit und somit den Menschen dient. Ich habe Lust und Leidenschaft, unsere Kirche mitzugestalten, weil ich hier in der Zukunftswerkstatt erlebt habe, was lebendige Kirche bedeuten kann und wie schön der Glaube ist.

Interview: Maria Hässig

 

* Die Zukunftswerkstatt ist ein Projekt der Berufungspastoral der deutschen Jesuiten. Leiter ist P. Clemens Blattert SJ, der diese vor zwei Jahren gründete. Zielgruppen sind junge Frauen und Männer zwischen 17 und 30 Jahren, die sich mit der Frage nach ihrer eigenen Berufung auseinandersetzen möchten. Das Angebot beinhaltet ignatianische Einzelexerzitien, Auszeitwochenenden, individuelle Auszeiten und die Möglichkeit, für ein Berufungsjahr in der Zukunftswerkstatt gemeinsam mit anderen Suchenden zu wohnen und mitzuarbeiten. Mehr Informationen unter: www.zukunftswerkstatt-sj.de


Isabelle Allmendinger

Dr. med. Isabelle Allmendinger (Jg. 1988) aus Calw (D) studierte 2009 bis 2016 Medizin an der Universität des Saarlandes und der Universität Basel. Im Sommer 2016 absolvierte sie einen Forschungsaufenthalt am St. Louis French Hospital in Jerusalem, anschliessend war sie bis im Herbst 2017 Assistenzärztin in Weiterbildung in der Klinik für Innere Medizin am Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein Ev. Stift Koblenz. Seit November 2017 ist sie Mitarbeiterin in der Zukunftswerkstatt.
(Bild: zvg)

 

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