Inklusion – ein Menschenrecht

Über gesellschaftliche Pflichten gegenüber behinderten Menschen

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und mittlerweile in den meisten Ländern umgesetzt wird, enthält ein Recht für Menschen mit Behinderung auf ein selbstbestimmtes Leben inmitten der Gesellschaft. Auch die Schweiz wird diese Konvention 2014 unterzeichnen und sich dann mit deren Forderungen im Einzelnen befassen müssen. Das «Menschenrecht auf Inklusion» tatsächlich umzusetzen, stellt sowohl praktisch-politisch als auch rechtfertigungs- theoretisch eine grosse Herausforderung für die Vertragsstaaten dar. Inklusion geht uns alle an: Daher richteten sich die beiden Veranstaltungen des Fachbereichs Ethik der Theologischen Fakultät der Universität Luzern zu Inklusion als einem Menschenrecht vom Dezember 2013 sowohl an Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch an beruflich in der Verwaltung und in der Behindertenhilfe Tätige, an von Behinderung betroffene Menschen und Schweizer Bürgerinnen und Bürger generell.

Ethische Diskurse zielen auf Praxis

Ethik nicht als «l’art pour l’art», vielmehr: Anwendungsbezogene ethische Diskurse zielen auf Praxis. Insbesondere die theologische Ethik ist immer schon auf die Vermittlung ethischer Diskurse und die Umsetzung ethischer Urteile ausgerichtet. Die Gleichheit und Einzigartigkeit aller Menschen vor Gott, ebenso aber die Kontingenz und Endlichkeit des Menschen und damit seine Verletzlichkeit fordern dazu auf, Menschen, die körperliche oder psychische Einschränkungen haben oder von gesellschaftlichen Erwartungen und Normierungen abweichen, als gleichwertige Mitglieder anzuerkennen und wertzuschätzen. Angewandte theologische bzw. philosophische Ethik fragt darüber hinaus nach dem Warum, der vernünftig nachvollziehbaren Begründung moralischer Forderungen. Mit philosophischen Begriffen und Theorien, etwa der Rechts- und Tugendlehre Kants, lassen sich christliche Optionen vernünftig nachvollziehbar einholen und in die gesellschaftliche Debatte einbringen.

Gastdozentin für Vortrag und Workshop zum Thema «Inklusion – ein Menschenrecht» war Frau Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. Sigrid Graumann von der Evangelischen Fachhochschule Bochum, die u. a. Mitglied des Fachausschusses Bioethik beim Bundesbehindertenbeauftragten, Mitglied der Gendiagnostikkommission der Deutschen Bundesregierung und Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Deutschen Bundesärztekammer ist und eine einschlägige Dissertationsschrift zum Thema verfasste (Graumann, Assistierte Freiheit, Frankfurt 2011). Im Workshop legte Frau Prof. Graumann mit ihrer Kant- Interpretation für den wissenschaftsethischen Diskurs dar, dass mit dem Recht auf «assistierte Freiheit» die Hilfs- und Leistungspflichten staatlicher Institutionen und der Bürgerinnen und Bürger nicht nur rechtlich vorgegeben sind, sondern auch aus ethischer Sicht mit guten Gründen eingefordert werden können. In Abkehr von einem liberalistischen Autonomieverständnis im Sinne individueller Wahl- und Willkürfreiheit, das Unabhängigkeit und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung als gegeben voraussetzt, geht «assistierte Freiheit» von einem zur Selbstbestimmung fähigen Menschen aus, der zugleich aber leibliches, verletzbares und soziales Wesen ist. Das Recht auf «assistierte Freiheit» enthält daher verbindliche Ansprüche auf Entwicklung, Förderung, Bewahrung und Wiederherstellung der Selbstbestimmungsfähigkeit. Denn jeder Mensch kann mehr oder weniger plötzlich in eine Situation geraten, in der er auf Grund einer kurz- oder langfristigen Beeinträchtigung auf fremde Hilfe angewiesen ist, in der er sich mit Barrieren auseinandersetzen muss. Mit der öffentlichen Bewusstmachung von Schranken können diese abgebaut werden, um Menschen mit einer Behinderung mehr Freiraum und Selbstbestimmung zu eröffnen. Denn nicht nur bauliche Hindernisse wirken einschränkend, sondern auch Hindernisse in Bezug auf Mobilität, Information und Kommunikation, Arbeitsleben und Freizeit. Im Bedarfsfall Assistenz in verschiedener Form, sei es durch Aufklärung, Bildung, Hilfsmittel oder persönliche Assistenz zu gewährleisten, ist Aufgabe von Individuen und Institutionen.

Die Einführung der UN-Behindertenrechtskonvention

Die Einführung der UN-Behindertenrechtskonvention überträgt der Gesellschaft mehr Verantwortung als bisher. Grundsätzlich entspricht die UN-Behindertenrechtskonvention der gut verankerten humanitären Tradition der Schweiz, doch wird sie den Bund, die Kantone und ihre Eidgenossen noch stärker in die Pflicht nehmen: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen anderer Nationen zeigte Frau Prof. Graumann auf, welche gesellschaftlichen Verpflichtungen mit der Umsetzung des «Menschenrechts auf Inklusion» verbunden sind. So ist z. B. nach Art. 19 das Wohnen von Menschen mit Behinderung in Heimen zu er- weitern durch Angebote zum individuellen Wohnen inmitten der Gesellschaft: «Kostenvorbehaltsregelungen zu Gunsten einer Heimunterbringung sind nicht mit der Konvention vereinbar.» Art. 23 zur Familie hebt hervor, dass Partnerschaft in allen Wohnformen möglich sein muss und dass es Anspruch auf Elternassistenz gibt. Kinder dürfen nur von ihren Eltern getrennt werden, wenn sich das Kindeswohl über keinen anderen Weg sichern lässt. Um den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen zu können, besteht Anspruch auf Arbeitsassistenz. «Letztlich sind Behindertenwerkstätten als vorrangiger Arbeitsort nicht mit der Konvention vereinbar», sagte Prof. Graumann zur Auslegung des Art. 27 «Arbeit und Beschäftigung». Inklusion im Bildungssystem werde nicht nur einen Umbau des Bildungssystems, sondern auch eine veränderte Lehrerausbildung erforderlich machen, um Einzelförderung und didaktische Vielfalt gewährleisten zu können. Art. 9 zur Zugänglichkeit von Information und Kommunikation bringe mit sich, dass Informationen im Internet auf Homepages und Informationsdiensten anders gestaltet werden müssen.

In den Arbeitsgruppen des Workshops und den Wortmeldungen zum Vortrag kamen neben begründungstheoretischen Fragen vor allem konkrete Fragen zum künftigen gesellschaftlichen Zusammenleben und zum Wandlungsbedarf institutioneller und finanzieller Unterstützung behinderter Menschen auf: Wenn «assistierte Freiheit» als aktive Unterstützung und Barrierenabbau mehr Freiheit und Teilhabe in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen, Freizeit, Kultur und Politik eröffnen soll, was wären dann die nächsten Schritte, so einige Wortmeldungen?

Schwierigkeiten der integrativen Förderung

Inwiefern es für Inklusion der Mitwirkung aller Mitglieder einer Gesellschaft bedarf, wurde z. B. im Bereich Bildung deutlich. So zeigten in einem Gruppengespräch betroffene Eltern und beruflich in der Volksschule Tätige die Vorzüge und Schwierigkeiten der vielerorts schon vorhandenen integrativen Förderung auf. Zwar stelle die individuelle Förderung aller Kinder in den Schulen die einzig zukunftsweisende Lösung dar, doch könne vermutlich nicht immer maximale Bestenförderung erfolgen. Ausserdem müssten neben pädagogisch speziell geschultem Lehrpersonal Eltern und Mitschüler die Integration behinderter Kinder nicht nur dulden, sondern sie sollten einbezogen werden und gemeinsam in die neue Situation hineinwachsen. Äusserst hohen Nachholungsbedarf an Inklusion machten Betroffene und deren Angehörige in Bezug auf Arbeitsplätze geltend. Auch bei geringfügiger körperlicher oder psychischer Behinderung sei es nahezu aussichtslos, auf Dauer einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Die Wirtschaft nehme ihre soziale Verantwortung bislang zu wenig wahr. In der Schweiz, so Teilnehmende des Workshops, gebe es teilweise bereits «Wohnschulen», die die Grenzen zwischen stationärem und ambulantem Wohnen durchlässiger machten und auch dem Recht auf «assistierte Freiheit » entsprächen. Gleichwohl würden in der Schweiz trotz guter Absichten durch Finanzierungseinwände viele innovative Überlegungen gestoppt. Eine weitere verwaltungstechnische Schwierigkeit bestehe darin, dass Leistungen für Assistenz und Inklusion derzeit aus unterschiedlichen Budgets refinanziert werden müssten. Aber auch grundsätzlich sei zu klären: «Wer entscheidet, wie viel Freiheit kosten darf?», so ein Teilnehmer des Workshops. Prof. Graumann hob diesbezüglich hervor, dass die Behindertenrechtskonvention nun bessere Möglichkeiten biete, berechtigte Ansprüche auch durchzusetzen.

«Wer soll das anstossen?», fragten einige beruflich in der Behindertenhilfe Tätige und zahlreiche Betroffene. Skeptische und resignative Töne waren ebenfalls zu hören: «Was machen wir, wenn die übergeordneten Institutionen nicht tätig werden?» Musterprozesse – in Bezug auf Bildung und psychiatrische Zwangsbehandlung gab es sie in Deutschland bereits – werden die Umsetzung sicherlich beschleunigen, so die Antwort Frau Prof. Graumanns auf zahlreiche Nachfragen von Teilnehmenden zur Realistik der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention.

Entsolidarisierung wegen Verrechtlichung?

Zugleich dürfe aber nicht alles nur an staatliche Institutionen und berufliche Helferinnen und Helfer delegiert werden, so zahlreiche Teilnehmende. Es bestehe die Tendenz, dass sich die Gesellschaft zurücklehne, weil alles verrechtlicht werde. Auch die Gesellschaft und ihre Mitglieder im Einzelnen haben eine neue Verantwortung angesichts des Rechts behinderter Menschen auf Inklusion. Zudem wird die UN-Behindertenrechtskonvention sicherlich auch Rückwirkungen auf die Interpretation der Allgemeinen Menschenrechte haben. Letztlich verändert sich unser aller Selbstverständnis, was die Möglichkeiten von Selbstbestimmung und Teilhabe in unserer Gesellschaft anbelangt.

Frau Prof. Monika Bobbert, die Lehrstuhlvertreterin vom Institut für Sozialethik der Theologischen Fakultät Luzern, führte die beiden öffentlichen Veranstaltungen im Dezember 2013 sowie die Vorlesung «Ethik und Behinderung» im Herbstsemester durch. Das Institut wird dieses Thema weiterhin bearbeiten. Ausführliche Informationen zum Ablauf der Unterzeichnung sowie die UN-Behindertenrechtskonvention finden Sie auf der Website des Eidg. Departements des Innern ( www.edi.admin.ch ).

 

Monika Bobbert (Bild: unilu.ch)

Monika Bobbert / Lucia Sidler

Frau Prof. apl. Dr. theol. Monika Bobbert, Dipl.- Psych., hat die Lehrstuhlvertretung für Theologische Ethik und Sozialethik am Institut für Sozialethik der Theologischen Fakultät der Universität Luzern inne.

Frau Lucia Sidler ist Administrative Assistentin am genannten Institut.