Geschenktes Leben: Rechtfertigung aus Glauben

 11. Sonntag im Jahreskreis: Gal 2,16.19–21 (2 Sam 12,7–10.13; Lk 7,36–8,3 oder 7,36–50)

«Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar »: Dieser Satz aus dem «Kleinen Prinzen» von A. de Saint-Exupéry ist wohl einer der meistzitierten spirituellen Sätze der letzten 70 Jahre. Analog könnte man in Anlehnung an Gal 2,16 formulieren: Das Wesentliche in unserem Leben erhalten wir geschenkt, wir leben nicht aufgrund eigener Leistungen oder Verdienste. Mit Gal 2 und dem Bekenntnis zur Rechtfertigung aus Glauben (und nicht aus den «Werken der Tora») kommt die Leseordnung zu einem Kerntext der – an wichtigen Texten wahrhaftig nicht armen – paulinischen Theologie. Exegetinnen und Dogmatiker hat der Text seit jeher intensiv beschäftigt und zu vielerlei Kontroversen angeregt, nicht nur in der jahrhundertelangen, inzwischen durch die «Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre» vom 31. Oktober 1999 beigelegten kontroverstheologisch- ökumenischen Diskussion. Eine Predigt sollte sich dieser grösseren Zusammenhänge bewusst sein und muss zugleich danach fragen, was Gal 2 zur Identität heutiger christlicher Gemeinden beitragen kann.

Gal 2 im jüdischen Kontext

Der von der Leseordnung vorgesehene Ausschnitt aus Gal 2 beginnt mit einem pointierten «wir» und lädt damit zur Identifizierung ein. Der grössere Zusammenhang der Lesung macht jedoch deutlich, dass wir, die heutigen Leserinnen und Hörer des Textes, uns mit diesem paulinischen «wir» gerade nicht ohne Weiteres identifizieren dürfen. Denn Paulus hat darin nicht seine heidenchristlichen Adressatinnen und Adressaten in den Gemeinden Galatiens und schon gar nicht uns heute im Blick, sondern Petrus und sich selbst – zwei jüdische Männer, denen die unverbrüchliche Treue zur Tora ein Herzensanliegen ist bzw. war. Nur vor diesem Hintergrund erhält Gal 2,16 seinen vollen Sinn: «Wir» – Petrus und Paulus als Juden – «haben erkannt, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus ». So gibt Paulus die Worte wieder, die er anlässlich des sogenannten «antiochenischen Zwischenfalls» (vgl. Gal 2,11 ff.) an Petrus gerichtet hat. Aus jüdischer Sicht steckt hinter diesem Satz eine neue Glaubenserkenntnis, deren Brisanz für nichtjüdische Menschen nicht in vollem Umfang nachvollziehbar ist.

Dabei ist jedoch vor einem weit verbreiteten christlichen, latent antijüdischen Missverständnis zu warnen: Klischees von einer angeblichen jüdischen «Selbstrechtfertigung » oder «Selbsterlösungsfrömmigkeit» durch eine möglichst umfassende Einhaltung der Tora sind völlig fehl am Platz. Auch für das Judentum war und ist immer selbstverständlich, dass die Rechtfertigung ein Geschenk Gottes ist, das auch durch ein noch so toratreues Leben nicht «verdient» werden kann. In einem in Qumran entdeckten Text, der sog. «Gemeinderegel», heisst es beispielsweise: «Durch seine [Gottes] Gnade kommt meine Rechtfertigung, in seiner wahren Gerechtigkeit richtet er mich. In der Fülle seiner Güte entsühnt er alle meine Vergehen, und durch seine Gerechtigkeit reinigt er mich …» (1QS XI,14 f.). Charakteristisch für frühjüdische Theologie und lebenspraktische Spiritualität ist es jedoch, dass die von Gott geschenkte Rechtfertigung an die Einhaltung der Tora zurückgebunden wird. In derselben Gemeinderegel heisst es andernorts: «Unrein, unrein bleibt er [ein Mensch, der auf falschen Wegen geht], solange er die Satzungen Gottes verachtet (…). Durch seine Unterwerfung unter alle Gesetze Gottes wird gereinigt sein Fleisch» (1QS III,5.8).

Paulus beschreitet in Gal 2 aus jüdischer Perspektive also Neuland, indem er die Rechtfertigung durch Gott so grundsätzlich wie nirgends sonst im Frühjudentum von der Einhaltung der Tora löst und an ein neues Kriterium bindet: den «Glauben an Jesus Messias». Dass er die Tora dabei nicht grundsätzlich über Bord wirft, sondern weiterhin als Richtschnur für menschenwürdiges, gottgewolltes und sozialverträgliches Handeln sieht, machen zahlreiche Paränesen der Paulusbriefe hinreichend deutlich. Aber als Rechtfertigungskriterium verliert die Tora dennoch ihre ansonsten im Judentum unersetzbare Funktion.

Zu beachten ist dabei jedoch, dass Paulus dieses Bekenntnis gerade nicht in Abgrenzung vom Mehrheitsjudentum formuliert, sondern gegenüber seinen judenchristlichen Gegnern in Galatien, die die Einhaltung der Tora innerhalb der Jesus-Messias-Bewegung fordern. Wir haben es also mit einem Identitäts- und Klärungsprozess innerhalb der jesusmessianischen Gemeinden zu tun, nicht (primär) mit einer Abgrenzung vom Mehrheitsjudentum. Somit formuliert Paulus in Gal 2 (s)ein Glaubensbekenntnis für das jesus-messianische Judentum, das für seine judenchristlichen Gegenspieler ähnlich herausfordernd ist wie für das Mehrheitsjudentum. Dreh- und Angelpunkt dieses Glaubensbekenntnisses ist die Christusoffenbarung, die Paulus vor Damaskus erfahren hat und die ihn in einer anscheinend nahezu alltäglichen Gottunmittelbarkeit weiterhin prägt: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20). Die übrigen Aussagen der Lesung spielen in kürzester Form auf die paulinische Tauftheologie an (2,19) und formulieren die Zuwendung des Messias Jesus in einer höchst persönlichen, geradezu individualisierten Weise, die – passend zum Gesamtzusammenhang von Gal 2 – wohl ebenfalls in biografisch tief verwurzelten Glaubenserfahrungen des Paulus wurzeln: «… der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat» (2,20). Ob Paulus diese Sätze ohne seinen Wandel vom Verfolger zum Empfänger einer Christusoffenbarung, von seiner Berufung vom «Inquisitor» zum Völkerapostel, so persönlich hätte formulieren können?

Heute mit Paulus im Gespräch

So wichtig die Klärungsprozesse in Galatien für die paulinische Theologie und die Geschichte des Frühchristentums auch sind – eine Predigt muss nach Anknüpfungspunkten für heutige christliche Identität fragen. Hier bietet sich eine kritische Reflexion von Lebenskonzepten und Menschenbildern an, die die Leistungsaspekte menschlichen Lebens einseitig in den Vordergrund stellen. Leben ist aus christlicher Perspektive zuallererst und zuinnerst ein Geschenk Gottes – jenseits jeder Leistung. Wer sich seine (innere) Daseinsberechtigung erst «verdienen» und sein Leben so selbst «rechtfertigen» muss, darf sich sagen lassen, dass Rechtfertigung – nach Paulus – allein durch Gnade bzw. Glauben geschieht, nicht aufgrund eigener Leistungen. Das gilt für Asylbewerber und Sozialhilfeempfänger genauso wie für Bankangestellte, für Menschen auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit ebenso wie für geborene und ungeborene Kinder und für andere Menschen, die auf Grund von Alter, Krankheit oder gebrochener Lebenswege in der Entfaltung ihrer Lebensenergien eingeschränkt sind. Dabei kann der Drang, sich das eigene Leben erst verdienen zu müssen, ganz unterschiedliche Formen annehmen – auch solche, die in unseren Pfarreien hoch geschätzt sind. Aus der Perspektive einer Rechtfertigung aus Glauben gibt es jedoch keinen Unterschied zwischen einem «Workaholic» in der Privatwirtschaft und einer Frau, die sich beispielsweise in einem (über-)grossen sozialen Engagement selber verzehrt.

 


Detlef Hecking

Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Theologe, Bibliodrama- und Bibliologleiter. Nach Tätigkeiten als Pfarreiseelsorger, Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Dozent an der Universität Luzern (RPI) ist er seit 2021 Pastoralverantwortlicher im Bistum Basel.