Zur Rezeptionsgeschichte des Ökumenedekrets
I. Die ökumenische Frage auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Zum Ende der Weltgebetsoktav für die Einheit der Christen hatte Papst Johannes XXIII. im Jahr 1959 ein allgemeines Konzil für die Weltkirche einberufen. Wie war das Attribut «ökumenisch» zu verstehen? Der Kirchenhistoriker Giuseppe Roncalli dachte dabei wohl an die altkirchliche Bedeutung des Wortes «ökumenisch» im Sinne eines «den ganzen Erdkreis betreffenden» Anliegens. Das gewählte Datum war Programm, obgleich die Kennzeichnung der Ökumene bei anderen Kirchen (z. B. in der Orthodoxie) damals Kritik oder Widerspruch hervorrief. Aufgaben und Erwartungen des Konzils oszillierten zwischen innerkatholischer (lies: römischer) Reform und ökumenischen Bestrebungen. Galt bis zu dieser Zeit für die offizielle Position der katholischen Kirche eine «Rückkehr-Ökumene», so gab es sowohl in der Theologie als auch im Kirchenvolk ökumenische Bestrebungen.
Verstand sich die Enzyklika «Mortalium animos» von Pius XI. (1928) als Dokument dieser Rückkehr-Ökumene, so gründeten theologische Kreise Zeitschriften, die sich den Fragen der Ökumene widmeten (z. B. Eastern Churches Quarterly, Irénikon, Unitas, Catholica u. a. m.). Einzelne Theologen erhoben explizit ihre Stimme für die Ökumene, so beispielsweise Karl Adam, Romano Guardini, Otto Karrer, Paul Couturier, Hans Urs von Balthasar, Hans Küng, P. Ives Congar op, P. Max Pribilla SJ, P. Karl Rahner SJ und Désiré-Joseph Kard. Mercier. Als Basisbewegungen der Ökumene in dieser Zeit sind ebenfalls zu nennen der «Weltgebetstag der Frauen», das Christkönigs-Institut in Meitingen, die Liturgische Bewegung und die oben bereits genannte Weltgebetsoktav für die Einheit der Christen.
Am Pfingstfest (!) des Jahres 1960 wurde das Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen mit Johannes Willebrands als Sekretär und Augustin Kardinal Bea als Leiter errichtet. Dem wissenschaftlichen Beirat dieses Sekretariats gehörten von eidgenössischer Seite Bischof François Charrière und der Churer Theologe Johannes Feiner an.1 Die Fragen der Ökumene waren auf dem Konzil präsent.2 Die geladenen Gäste und Beobachter anderer Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften, die während des Konzils eingeladen waren, unterstrichen dessen ökumenische Ausrichtung. Für die Anliegen der Ökumene war es sicherlich von Vorteil, dass der Leiter des Einheitssekretariats, Kardinal Bea, zugleich Mitglied der Zentralkommission des Konzils war und so grossen Einfluss auf den Konzilsverlauf nehmen konnte.3 Ein erstes Schema «De oecumenismo» entstand im April 1963. In diesem Papier wurden folgende grossen Themenbereiche angesprochen: a) die komplexe und brisante Frage der Einheit der getrennten Kirchen, b) das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Juden, c) das Verhältnis zwischen der Kirche und den nicht-christlichen Religionen, d) die Frage der Kirche zur Thematik der Religionsfreiheit. Es lag ein bunter und vielfältiger Strauss von unterschiedlichen Themen vor, die z. T. im weiteren Verlauf des Konzils in eigenen Dokumenten behandelt werden sollten. Eine zweite Fassung des Papiers wurde der Konzilsversammlung vorgelegt. Fand dieses Papier zwar eine breite Zustimmung, so gab es doch eine bedeutende Minderheit, die zahlreiche Änderungen am Text verlangte. Die Entstehung des Dekretes gehört zu den Ereignissen der sog. «Schwarzen Woche» des Konzils, deren Verlauf hier nicht referiert werden soll. Das «Decretum de oeumenismo: Unitatis redintegratio», das am 21. November 1964 vom Konzil verabschiedet und noch am gleichen Tag von Papst Paul VI. promulgiert wurde, bildet einen Meilenstein für die Geschichte der Ökumene innerhalb der katholischen Kirche.4
II. Das Dekret
Die Fragen der Ökumene behandelten die Konzilsväter weder in einer Konstitution (z. B. die Dogmatische Konstitution über die Kirche «Lumen gentium» oder die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute «Gaudium et spes») noch in einer Erklärung (wie etwa die Erklärung über die Religionsfreiheit «Dignitatis humanae»), sondern in einem Dekret. Die literarische Form eines Dekretes besagt, dass lehrmässige Inhalte vorausgesetzt werden, auf denen das Dekret aufbaut. Im Falle des Dekrets zur Ökumene werden die ekklesiologischen Aussagen der Kirchenkonstitution «Lumen gentium» vorausgesetzt. Eine zentrale Bedeutung erhält bei dieser Debatte die Interpretation des achten Kapitels von «Lumen gentium». Im Anschluss an die Interpretation und Übersetzung des «subsistit» durch Papst Benedikt XVI. entbrannte eine kontroverse Debatte.5 Es zeigt sich, dass alle ekklesiologischen Fragen in der Interferenz der beiden Dokumente «Lumen gentium» und «Unitatis redintegratio» gelesen werden müssen.
Das Dekret «Unitatis redintegratio» (= UR) möchte Richtlinien für die ökumenische Haltung der katholischen Kirche und ihrer Glieder geben. Es war jedoch eine hermeneutische Vorgabe des Konzils, Lehre und Leben bzw. Doktrin und Pastoral nicht zu trennen, sondern in ihrer organischen Einheit zu betrachten! Die Reflexion beider Pole, in ihrem Mit- oder Gegeneinander gelesen, ist ein Moment der kontroversen Rezeptions- sowie Wirkungsgeschichte des Ökumenedekrets.
Die ökumenische Bewegung wird als Frucht des Wirkens des Heiligen Geistes qualifiziert, die Zeichen der Zeit werden als Ort theologischer Erkenntnis verstanden. Das Vorwort des Dekrets (UR 1) spricht von der Zielbestimmung der Ökumene und unterscheidet zwischen einem Nahziel (= Förderung der Einheit) und einem Fernziel (= Wiederherstellung der Einheit). Das erste Kapitel behandelt die katholischen Prinzipien der Ökumene (UR 2–4), das zweite widmet sich Fragen der praktischen Verwirklichung der Ökumene (UR 5–12), und das dritte geht auf die komplexe und geschichtlich belastete Frage der von Rom getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ein (UR 13–23). Ein Epilog (UR 24) schliesst mit Gedanken der Zuversicht des Glaubens in Fragen der Ökumene und warnt zugleich vor Leichtsinn und falschem Eifer auf diesem Gebiet.
Das Dokument UR war und ist ein Meilenstein für die ökumenische Frage innerhalb der katholischen Kirche. Der bekannte Lutherforscher und Ökumeniker Otto Herman Pesch nennt dieses Dekret gleichwohl ein paradoxes Gebilde, da es einerseits keine Abstriche am Selbstverständnis der katholischen Kirche macht, andererseits die Trennung der Christen als ein zu überwindendes Faktum versteht, da es dem Heilsplan Gottes widerspricht. Die aktuellen Debatten um die Interpretation des achten Kapitels von «Lumen gentium» in Verbindung mit den Aussagen des Dokuments «Dominus Jesus» oder des Dokuments «Ecclesia de Eucharistia» sind eine beredte Illustration dieser paradoxen Situation.
Das Konzilsdokument bietet also keinen konkreten Weg zur Einheit, weist jedoch auf Prinzipien hin, die für die Ökumene in Fragen der Lehre und Praxis zu bedenken sind: Kenntnis der eigenen Lehre und Verständnis für die anderen Traditionen, Bereitschaft zur Umkehr und Bekehrung sowie die spirituelle Dimension der Ökumene. Die Ökumene oszilliert in ihren verschiedenen Optionen, Tendenzen und Positionsbestimmungen immer zwischen den Akzenten Doktrin («Faith and Order») und diakonaler Pragmatik («Life and Work»). Zwar konnten alte Spannungen ausgeräumt werden (z. B. Rechtfertigungslehre), doch kamen neue Konfliktherde bezüglich ethischer Fragen im Bereich menschlicher Sexualität, Positionsbezügen zu bioethischen Fragen, Frauenordination und Gender-Thematik sowie postmoderner Ansätze in den kontextuellen Theologien hinzu.
III. Die ökumenische Frage in der Zeit nach dem Konzil
Obgleich heute von einem Stillstand der Ökumene, einer neuen Rekonfessionalisierung oder einem Zeichen bzw. Denkmal des 20. Jahrhunderts gesprochen wird,6 muss doch gesagt werden, dass das offizielle Dokument des Konzils ein ungeheures Potenzial ökumenischer Bewegungen freigesetzt und initiiert hat, in deren Vollzug die Kirche heute noch steht. Einige solcher Ereignisse und Einrichtungen seien pars pro toto genannt: die internationale lutherisch-römisch-katholische Kommission, die Mitarbeit seitens der katholischen Kirche in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Weltkirchenrates, der Rat für die Einheit der Christen (die heutige Kontaktstelle für die ökumenischen Gespräche in Rom), die Groupe des Dombes, der ökumenische Rat der Kirchen in Österreich, der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen sowie die internationale Societas Oecumenica. Die Texte aller Dokumente, Erklärungen und Konsenstexte umfassen bereits heute vier Bände in der Sammlung «Dokumente wachsender Übereinstimmung».7
Das «Lima-Dokument», die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die mehrbändige Reihe «Lehrverurteilungen – kirchentrennend?» und das Dokument von Ravenna sind herausragende Beispiele der beeindruckenden Arbeit der sogenannten Konsens-Ökumene, die sich heute z. T. einer (unberechtigten) Kritik ausgesetzt sieht. Das bilaterale katholisch-lutherische Dokument «Communio Sanctorum»8 und das Dokument «Kirche und Kirchengemeinschaft» der internationalen Römisch-Katholischen-Altkatholischen Dialogkommission9 sind neuere Beispiele produktiven theologischen Schaffens in der Ökumene. Ebenso ist an die vielen Engagements seitens der Basis in den verschiedenen Kirchen zu denken, die hier nicht aufgezählt werden können, aber gleichsam für den ökumenischen Prozess eine wichtige Funktion besitzen.10
Angesichts der vielen Dokumente zu Fragen der Ökumene, deren Kenntnis oft nicht das Kirchenvolk erreicht und die von den Kirchenleitungen wenig rezipiert werden, gibt die zunächst auf Englisch publizierte Publikation «Harvesting the Fruits», eine «In-via-Erklärung», in gebotener Kürze einen Einblick in das Erreichte im ökumenischen Dialog und zeigt an, worauf der heutige Dialog aufbauen kann.11 In diesem Zusammenhang ist ebenso an das immer neu revidierte «Ökumenische Direktorium» (letzte Ausgabe 1993),12 an Verabredungen zur Durchführung sogenannter «ökumenischer Trauungen» bei konfessionsverschiedenen (oder konfessionsverbindenden) Ehen oder an gemeinsame Erklärungen und Denkschriften zu gesellschaftlichen und politischen Fragen zu erinnern. In der Deutschschweiz gibt es das schöne Beispiel des Gesang- und Gebetsbuchs ökumenischen Geist konzipiert wurde.13
IV. Die ökumenische Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Das Dekret zur Ökumene kennt alle für die Rezeptionsgeschichte der Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils in der katholischen Kirche typischen Höhen und Tiefen. Es partizipiert zugleich an allem, was die ökumenische Bewegung in Nordamerika und Europa auszeichnet. Hierbei ist sowohl an die Veröffentlichungen verschiedener Kirchenleitungen bezüglich der Fragen zur Kirchenidentität zu denken, die z. T. als einen Rückschritt in Sachen Ökumene betrachtet werden, als auch an theologische wie spirituelle Texte, wie das im Jahr 2001 publizierte Dokument «Charta Oecumenica», das über die Kirchen in Europa nach der politischen Wende Mittel- und Osteuropas nachdenken möchte.14 Mit dem «Global Christian Forum» wurde ein Begegnungsort geschaffen, an dem die traditionelle Kirchen und neue Gemeinschaften (z. B. Pfingstbewegung[en], evangelikale Bewegungen) sich in einem ökumenischen Geist treffen und austauschen können. Ökumene lebt, das zeigt bereits die Geschichte der ökumenischen Bewegung, von theologischen wie aussertheologischen Faktoren. Angesichts der globalen Umbrüche in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik werden ökumenische Theologie und ökumenische Bewegung in einer Pluralität der (alten wie neuen) Christentümer stattfinden, die Kirchen anderer Kontinente werden sich vermehrt zu diesen Fragen äussern und als eigenständige kirchliche Subjekte wahrzunehmen sein.15 Das Christentum und damit die ökumenische Frage müssen sich in der Pluralität der Religionen neu situieren.16 Allen christlichen Kirchen ist die Frage ihres Selbstverständnisses in einer säkularen und offenen demokratischen Gesellschaft neu aufgegeben. Neuerdings fordern Theologen und Theologinnen eine erneute Debatte um eine Kriteriologie der Ökumene.17
Das Dekret zur Ökumene kennt verschiedene Jahreszeiten in seiner Rezeptionsgeschichte. Die Wonnen des Frühlings sind verflogen, die (erste) Ernte im Spätsommer eingefahren, Herbststürme scheinen zurzeit zu wehen, erholt sich der fruchtbare Boden doch im Winter, um im neuen Jahr neue Früchte zu bringen. Die Rezeptionsgeschichte des Dekrets der Ökumene auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil kann mit der Metapher der Jahreszeiten gut umschrieben werden. Kardinal Koch, derzeitiger Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, widerspricht allen, die heute von einer ökumenischen Eiszeit oder gar dem Ende der Ökumene sprechen wollen. Die ereignisvolle Geschichte von fünf Jahrzehnten Ökumene nach dem Konzil erlaube, so der Kardinal, keine Resignation.18 Die Metapher der Jahreszeiten für die Rezeptionsgeschichte des Dekretes findet jedoch auch eine Grenze. Impliziert der Gedanke des Jahreszeitenwechsels die Vorstellung der Wiederkehr des ewig Gleichen, so zeigt gerade die ökumenische Bewegung, dass Ökumene eine stete Hinwendung zu Christus meint – zu Christus, der durch die Einheit des Geistes und durch das Band des Friedens in der einen Hoffnung, in einem Glauben und in einer Taufe als Herr bekannt wird (vgl. Eph 4,3–5).