Früher war alles besser?

19. Sonntag im Jahreskreis: Hebräer 11,1–2.8–19 (Weish 18,6–9; Lk 12,32–48 oder 12,35–40)

Früher war alles besser! Ein Ausspruch, den man in Gesprächen oft hört. Es ist eine Nostalgie, die aus der Enttäuschung über das Jetzige genährt wird. Interessant ist, dem nachzuspüren, was dieses «Früher war alles besser» für das Jetzt bedeutet: Ist es nur die Verklärung der alten Zeit, die eine Reise über den Gotthard noch zum Abenteuer machte, während man das heute bequem und rasch durch den Tunnel macht – war dieses Früher besser? Ist es die Sehnsucht nach dem Früher, wo alle noch füreinander Zeit hatten, man sich noch zum Jassen traf und im Verein der Zusammenhalt noch grösser war? Heisst das dann, man kann heute nur noch resignieren, weil Jahr für Jahr alles schlechter wird? Oder liegt in dem Früheren eine Kraft, die einen positiven Blick auf die Zukunft öffnet, eine Vision für das Kommende entwirft?

Was in den Schriften steht

Die Verfasserin des Hebräerbriefs schreibt genau für eine solche Phase der Enttäuschung im Jetzt. Die Gemeindemitglieder sind müde im Glauben. Sie verfallen in Sünde. Sie sind in Gefahr, dem in Christus angebotenen Heil den Rücken zuzukehren. Die Gemeinde ist nicht von Verfolgung von aussen bedroht, sondern von innen durch ein allgemeines Erlahmen – also ganz aktuell wie heute. Früher war alles besser! – das heisst in der Situation des Hebräerbriefs: Vor wenigen Jahrzehnten, da war der Glaube noch frisch, das Christentum noch interessant, die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi noch da. Wie reagiert hier die Verfasserin des Briefes, was schreibt sie in dieser Situation ihrer Gemeinde?

Sie gibt diesem «Früher war alles besser» Recht. Sie macht das aber nicht im engen Sinne, früher vor 10 oder 20 Jahren, sondern sie greift weit aus in eine weltgeschichtliche Dimension. Sie greift zurück auf die Zeit des Volkes Israel und entwickelt daraus die alte Vision des endzeitlichen Zion mit einer neuen Dynamik und Hoffnung auf das himmlische Jerusalem.

Früher war alles besser – die Verfasserin beginnt ihren Argumentationsbogen bei der Schöpfung der Welt, um dies zu erklären: «Aufgrund unseres Glaubens erkennen wir, dass die ganze Welt durch Gottes Wort geschaffen wurde. Das Sichtbare ist also aus dem hervorgegangen, was wir nicht wahrnehmen können» (Hebr 11,3). Den Glauben, der in der Gemeinde aktuell mangelt, definiert sie: «Der Glaube ist die Gestalt dessen, worauf man hofft. Er liefert den Beweis für eine Wirklichkeit, die nicht sichtbar ist» (Hebr 11,1). Um in eine Zukunft zu gehen, braucht es einen Glauben. Ist der Glaube jetzt nicht genügend da – und das ist ja die Situation –, dann ist natürlich diese Zukunft gefährdet. Um diese Jetzt-Situation zu verändern, den Glauben im Jetzt zu stärken, argumentiert sie mit der Vergangenheit. «Aufgrund ihres Glaubens hat Gott den Alten das gute Zeugnis ausgestellt» (Hebr 11,2).

Nicht nur die Schöpfung, die auch heute noch jeder sehen kann und sich daraus den Glauben an Gott ableiten kann, ist für sie Zeugnis für den Glauben, sondern die Alten, die Erzväter und die Erzmütter. Damit beginnt die Verfasserin nun mit einer langen Aufzählung von Glaubenszeuginnen aus der Geschichte Israels:

Abel ist ein Glaubenszeuge; durch seinen Glauben war sein Opfer besser, und durch seinen Glauben kann er auch im Tod noch zu uns reden (Hebr 11,4 verarbeitet Gen 4,3–8). Henoch ist der nächste grosse Zeuge, dessen Glauben ihn direkt zu Gott brachte, ohne dass er sterben musste (Hebr 11,5–6 verarbeitet Gen 5,24). Noah wird gerühmt, weil er glaubte, ohne zu sehen. «Gott hatte ihm eine Warnung zukommen lassen vor dem, was noch gar nicht zu sehen war. Und Noach gehorchte voll Ehrfurcht vor Gott» (Hebr 11,7 fasst Gen 7–9 zusammen).

Abraham – hier setzt die liturgische Lesung den Text wieder fort – wird ausführlicher behandelt. Sein Wegziehen wird als grosse Glaubenstat gewertet. «Er zog fort an einen Ort, den er als Erbbesitz bekommen sollte. Und er zog fort, ohne zu wissen, wohin er kommen würde» (Hebr 11,8 nach Gen 12,1–4). Wie bei Noach ist auch bei Abraham der Punkt, dass er handelt, ohne den wahren Grund seines Handelns schon sehen und erkennen zu können. Genau das ist ja Glaube gemäss der Definition in Hebr 11,1: «Er liefert den Beweis für eine Wirklichkeit, die nicht sichtbar ist.» Dieses Warten auf etwas, das man nicht sieht, wird fortgeführt: «Abraham wohnte in Zelten zusammen mit Isaak und Jakob, die Miterben seiner Verheissung waren. Er wartete nämlich auf die Stadt, die auf festen Grundsteinen erbaut ist – die Stadt, deren Planer und Gründer Gott selbst ist» (Hebr 11,9–10). Spannend ist, dass die Verfasserin hier die Überlieferung nicht gemäss der Tora wiedergibt. Abraham stirbt in Gen 25,8, und sein Grosskind Jakob wird erst danach (Gen 25,26) geboren. Abraham und Jakob haben nicht gemeinsam in Zelten gewohnt. Diese Abänderung der Vorlage zeigt an, dass die gemeinte Aussage wichtiger ist als die Details, die ohnehin jeder kennt: Als Träger der Verheissung haben Abraham, Isaak und Jakob auf die «Stadt» gewartet – auch das ist natürlich nicht in der Tora überliefert. Die Erwartung einer himmlischen Stadt gehört in die eschatologische Vorstellungswelt. Jesaja verwendet dieses Bild (z. B. Jes 1,26: «Dann wird man dich die Burg der Gerechtigkeit nennen, die treue Stadt» oder Jes 45,13 als reale politische Vision: «Er baut meine Stadt wieder auf»). Aber auch sonst ist die Stadt, die direkt von Gott kommt, eine bekannte Vorstellung (z.B. Tob 13,10.17; Sir 51,12).

Nachdem auch Saras Vertrauen auf das «Unmögliche», im hohen Alter noch Mutter zu werden (Hebr 11,11), genannt ist – und die Verfasserin übergeht dabei, dass Sara ungläubig lacht (Gen 18,12) –, ist der Kern der Argumentation das Fremdsein, das Suchen nach der Heimat, was in der Argumentationskette (Hebr 11,13–16) zum Beweis für die Existenz einer himmlischen Heimat führt. Diese Stadt existiert schon: «Denn Gott hat für sie eine Stadt vorbereitet » (Hebr 11,16) – im Griechischen Aorist, Vergangenheit, das war Früher!

Mit der Verfasserin des Hebräerbriefs im Gespräch

Was mit dieser Stadt an Hoffnungen und Aussagen verbunden ist, schreibt die Verfasserin detaillierter in Kapitel 12 (Hebr 12,22). Dazu dann mehr in der Auslegung zum 22. Sonntag im Jahreskreis. Hier in Kapitel 11 geht es um den Rückgriff auf Früher. Da war nicht alles besser, aber da haben die Menschen – so der Argumentationsgang – in den schwierigen Situationen auf Zukünftiges vertraut. Der Blick zurück wird dann fruchtbar und Gewinn bringend – und das gilt für uns heute auch in Alltagssituationen –, wenn daraus eine Vision und Hoffnung für die Zukunft entstehen. Die Verfasserin zeigt uns, dass die Zukunftsvision früher schon diese «Stadt» war, diese Stadt, die seit ganz früh existiert. Im Glauben an Jesus Christus ist es der Gemeinde möglich, bereits jetzt in der Gegenwart der noch unerlösten Welt an diesem Verheissungsgut teilzuhaben: die himmlische Stadt, in der das Reich Gottes unmittelbar anbricht.

Winfried Bader

Winfried Bader

Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet als Pastoralassistent in Sursee