Flüchtlingskinder – verletzlich – ohne Stimme

Flüchtling

Patrick Renz, der neue Nationaldirektor migratio, zum Sonntag der Völker 2017.

Mit Kindern lernen wir Gott kennen. «Wo ist da der liebe Gott?», fragte mein dreijähriger Sohn, als ich ihm ein Kreuzlein ohne Korpus in die Hand legte. Oder die Jugendliche, welche ich auf dem Firmweg begleitete: «Ich weiss nicht genau, wes­halb ich mich firmen lasse, aber ich spüre, da ist etwas Wichtiges.» Zahlreich sind die Geschich­ten, welche vom transzendentalen Gespür von Kindern und Jugendlichen zeugen. Ein Gespür, das beim Erwachsenwerden Gefahr läuft, in der Flut heutiger Sinnesreize verloren zu gehen. Mit Kin­dern lernen wir neu, nach Gott zu fragen.

Was, wenn dieses intuitive Gespür bereits im Kindesalter jäh abbricht, durch traumatische Erfahrungen, Ausnutzung und Missbrauch ver­stört wird? «Wo ist Gott? Hat er mich allein ge­lassen?» Flüchtlingskinder – allein – alleingelassen – verletzlich – fremd – wehrlos. Statt fröhlichem Geplapper, Kindersingen, Lausbubenstreichen. Der Bischof von Damaskus, so schreibt Bischof Jean-Marie Lovey, erzählte von Kindern, deren Väter und ältere Bezugspersonen im Krieg gestor­ben sind und die sich nun allein mit ihren über­forderten Müttern in den Flüchtlingslagern be­finden; oder von denjenigen, die ihre Zeit in den verlassenen Strassen verbringen, weil ihre Schulen zerstört worden sind. Diese Kinder haben nicht einmal mehr das Recht, Kinder sein zu dürfen.

Durch die Kleinsten unseren Weg zu Gott finden

«Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf» (Mk 9,37). Papst Franziskus weist in seiner Botschaft zum Sonntag der Völker 2017 darauf hin, dass dieses Bibelwort auch den Weg vorzeichne, der von den Kleinsten ausgeht. Er spricht von einer «Dynamik der Aufnahme», die zu Gott führe. «Diese Aufnahme ist also die notwendige Bedingung, damit dieser Weg sich verwirklicht.» Das heisst aber auch, dass unsere Liebe zu den Kleinsten und Schwächsten nicht nur Ausdruck unseres Glaubens ist, sondern auch Hil­fe auf unserem Glaubensweg.

Gott will, dass diese «Dynamik der Annah­me» in unserer Welt spürbar und konkret werde. Kann sich das nicht genau bei Flüchtlingskindern ereignen? Sind nicht wir diejenigen, durch die es geschehen soll?

Fruchtbares Thema – hilfreiche Unterlagen

Das Thema «Flüchtlingskinder – verletzlich und ohne Stimme» ist in der Tat ein fruchtbares Mot­to für den Sonntag der Völker. Migratio hat allen Pfarreien die brisante und inspirierende Botschaft von Papst Franziskus «Minderjährige Migranten – verletzlich und ohne Stimme» zugesandt. Ebenso das (deutliche) Wort der Bischöfe, verfasst vom verantwortlichen Bischof für Migration, sowie konkrete liturgische Anregungen und die Be­grüssungen in verschiedenen Sprachen, je erstellt vom entsprechenden italienisch-, spanisch-, por­tugiesisch- beziehungsweise kroatischsprachigen Koordinator. Mit der Kollekte möchte migratio neben inländischen Projekten erneut zwei Projek­te in betroffenen Ländern unterstützen: in Eritrea zur Stärkung der Pastoralarbeit und im Irak zur Unterstützung der in prekären Situationen ge­strandeten Binnenflüchtlinge. Auch hierzu haben die Pfarreien entsprechende Projektbeschreibun­gen erhalten.

Wie Zuhörerinnen und Zuhörer erreichen?

Der Handlungsbedarf zu Migration ist gross. Die Appelle sind eindringlich. Gleichzeitig ist das The­ma eine grosse Herausforderung. Papst Franzis­kus hat in seiner kürzlichen Rede an die Natio­naldirektoren und an die innerhalb der einzelnen Bischofskonferenzen für Migration Verantwort­lichen seine grosse Besorgnis zum Ausdruck ge­bracht, dass auch in unseren Kirchen xenophobe und ausländerfeindliche Tendenzen feststellbar sind. Zudem wächst in vielen Ländern Europas – auch in der Schweiz – die Gefahr, beim Thema Migration mental abzuschalten. Wie gelingt es uns dennoch, möglichst viele Menschen für das The­ma «Flüchtlingskinder» zu erreichen? Vielleicht genau dort, wo wir das Thema aus Sicht der Kin­der angehen oder wo wir die Bedeutung von «Er­fahrungen der Annahme» als konstitutiv für den Glauben erkennen.

nd: Wenn wir Angst gegenüber dem Fremden haben, sind wir nicht allein – ein ankom­mendes Flüchtlingskind hat auch Angst. Wenn wir diese Gemeinsamkeit als Startpunkt einer Begeg­nung nehmen, entsteht aus Angst Kraft. Kraft für Gemeinsames, für Zukunft, für Communio.

Eine Stimme für Flüchtlingskinder: das konkrete Engagement in unserer eigenen Gemeinde

Ich freue mich, wenn wir uns am Sonntag der Völker miteinander, jede Pfarrei, jede Mission an ihrem Ort, auf die Situation von Flüchtlingskin­dern einlassen. Die Heilige Familie von Nazareth war selbst Flüchtlingsfamilie, selbst auf dem Weg. Damit begehen wir quasi als lebendige und soli­darische Gemeinschaft ein Stück Glaubensweg miteinander.

«Geben wir den Kindern eine Stimme.» Überlegen wir uns – vielleicht ganz konkret –, wie Zeichen unserer grossherzigen Aufnahme bei ihnen ankommen können!

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Flüchtlingskinder – verletzlich und ohne Stimme

Das Kindesalter hat aufgrund seiner be­sonderen Zartheit einzigartige Bedürf­nisse und unverzichtbare Ansprüche. Vor allem hat das Kind das Recht auf ein gesundes und geschütztes familiäres Um­feld, wo es unter der Führung und dem Vorbild eines Vaters und einer Mutter aufwachsen kann; dann hat es das Recht und die Pflicht, eine angemessene Erzie­hung zu erhalten, hauptsächlich in der Familie und auch in der Schule, wo die Kinder sich als Menschen entfalten und zu eigenständigen Gestaltern ihrer eige­nen Zukunft sowie der ihrer jeweiligen Nation heranwachsen können. Tatsäch­lich sind in vielen Teilen der Welt das Le­sen, das Schreiben und die Beherrschung der Grundrechenarten noch ein Privileg weniger. Ausserdem haben alle Kinder ein Recht auf Spiel und Freizeitbeschäftigung, kurz: ein Recht, Kind zu sein.

nter den Migranten bilden die Kinder dagegen die verletzlichste Grup­pe, denn während sie ihre ersten Schritte ins Leben tun, sind sie kaum sichtbar und haben keine Stimme: Ohne Sicherheit und Dokumente sind sie vor den Augen der Welt verborgen; ohne Erwachsene, die sie begleiten, können sie nicht ihre Stim­me erheben und sich Gehör verschaffen. Auf diese Weise enden die minderjähri­gen Migranten leicht auf den untersten Stufen der menschlichen Verelendung, wo Gesetzlosigkeit und Gewalt die Zukunft allzu vieler Unschuldiger in einer einzi­gen Stichflamme verbrennen, während es sehr schwer ist, das Netz des Miss­brauchs Minderjähriger zu zerreissen.

Ausschnitt aus der Botschaft von Papst Franziskus zum Welttag des Migranten und Flüchtlings 2017.

Patrick Renz

Patrick Renz ist Nationaldirektor migratio.