Familienrealitäten

Familienvielfalt

Jesus entstammt einer Patchwork-Familie und stösst als Zwölfjähriger seine Mutter und seinen Stiefvater mit der Aussage "Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln" (Lk 8,21) vor den Kopf. Der gleiche Jesus formuliert ein sehr strenges Ideal des Ehebundes und kritisiert die jüdische Gesetzestradition, welche die Möglichkeit bietet, dass ein Mann seine Frau aus der Ehe entlassen kann. Jesus betont radikal, dass jede Ehe im Himmel geschlossen sei. Mit solchen Aussagen verdeutlicht Arnd Bünker in seiner Einleitung zum Buch "Familienvielfalt in der katholischen Kirche. Geschichten und Reflexionen" (herausgegeben vonArnd Bünker und Hanspeter Schmitt in der Edition NZN bei TVZ, Zürich 2015, 155 S.), dass selbst die Heilige Familie nicht gerade dem klassischen Familienideal der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entspricht.

Heute ist die "klassische" Familie im Rückzug, Eineltern- und Patchworkfamilien und die grosse Masse von Alleinlebenden nehmen zu, und die Distanzierung von kirchlichen Normen und Vorgaben ist gerade in den Bereichen von Sexualität und Partnerschaft auch bei sogenannt guten Katholiken alles andere als selten. Umso brisanter ist das Thema der Bischofssynoden 2014 und 2015 – kein anderes Synodenthema hat bisher so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Dazu trug nicht zuletzt Papst Franziskus mit der von ihm initiierten grosse Umfrage vom November/Dezember 2013 bei, die ein Fingerzeig dafür ist, die Realität der Familien in den Blick zu nehmen. Das ist kein Verrat an den kirchlichen Idealen von Ehe und Familie. Aber Franziskus hat "Bodenhaftung", er nahm offensichtlich die Realität seiner Heimatdiözese mit mehrheitlich "irregulären" Ehe- und Familiensituationen, wo er mit seiner Theologie der Barmherzigkeit kirchliche Präsenz markiert hatte, gedanklich nach Rom mit.

Im vorliegenden Buch "Familienvielfalt in der katholischen Kirche" werden von zwei Autorinnen und einem Autor fünf Familienporträts vorgestellt – darunter auch eine "klassische" Familie –, in denen viele katholische Reizwörter aufscheinen: Scheidung, vorehelicher Geschlechtsverkehr, gleichgeschlechtliche Beziehung, natürliche Empfängnisverhütung, Nichtzulassung zu Sakramenten, Entfremdung von der Kirche usw. Diesem "Faktenteil" folgen "Reflexionen", Gespräche mit Fachleuten aus Theologie, Kirchenrecht, Pastoral und Eheberatung sowie ein abschliessender Text vom zweiten Herausgeber Hanspeter Schmitt mit dem Fazit, dass die Kirche sich der realen Familienvielfalt stellen und diese auch vermehrt theologisch würdigen soll. Auch wenn man nicht immer mit allen Schlussfolgerungen des Buches einverstanden sein muss und die Realität nicht automatisch idealbildend ist, wird klar, dass Dialog und Reformen anstehen. Dafür sind vertiefte Reflexionen nötig, wozu das vorliegende Buch bestens anregt.

Urban Fink-Wagner

Urban Fink-Wagner

Der Historiker und promovierte Theologe Urban Fink-Wagner, 2004 bis 2016 Redaktionsleiter der SKZ, ist Geschäftsführer der Inländischen Mission.