Empirische Befunde zur Gottesdienstmusik (II)

Gottesdienste werden musikalisch mitgestaltet. Die Erwartungen dazu werden in jüngerer Zeit empirisch erforscht.1 Die Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit frühzeitiger Absprachen unter den an Gottesdienst Beteiligten.

Vor dreizehn Jahren, 2003 kam eine Umfrage in Wien zum Ergebnis, dass traditionelle und neuere Musik in Gemeinden unterschiedlich bewertet werden.2 Nur am Rand erfasst werden konnten Jugendliche und unter 52-jährige. Die Untersuchung unterschied vier Gruppen. In Sachen Musik und Formen des Gottesdienstes, modernen liturgischen Gebeten und Gestaltung waren die Positiv Gemeinde-Nahen sowohl aufgeschlossen wie tolerant, aber zurückhaltend mit grundsätzlichen Änderungen. Die Kritisch Gemeinde-Nahen waren traditionellen Formen abgeneigt, neuere Lieder wurden gewünscht, älteres Liedgut weitgehend abgelehnt. Die Positiv Suchenden schätzten dagegen Traditionelles, Feierliches. Älteres Liedgut stand bei ihnen vor modernen Liedern. Aufgeschlossen für Neueres lehnten sie jedoch die grundsätzliche Neugestaltung des Gottesdienstes ab. Die Kritisch Nüchternen waren eher Neuerem zugewandt, was auch für Gottesdienst-Formen galt: Traditionelles, Feierliches wurde hier weniger geschätzt.

Grosse Spannbreite von Erwartungen

Unter den Befragten wurde Musik im Gottesdienst übereinstimmend als wichtig benannt. Sie habe aber in der Praxis nicht die ihr zugedachte Rolle. Für die Kritischen, Gemeinde-Nahen und Nüchternen sei die aktuelle Rolle der Musik im Gottesdienst nicht angemessen. Was traditionelles und neueres Liedgut betrifft, seien die Vorstellungen unterschiedlich, das neuere Liedgut seitens der Gemeinde-Nahen klar priorisiert. Vorgeschlagen wurde, der Polarisierung zu begegnen durch Hinführen in Text und Musik sowie die Weckung des Verständnisses für Liturgie und Kirchenjahr. Nötig seien wechselseitige Toleranz und allgemein die Pflege der Gemeinschaft. Jahre später lautet nach einer erneuten Umfrage die Bilanz: «Der Musik im Gottesdienst wird in allen Gesprächen ein hoher Stellenwert eingeräumt, da sie für das emotionale Erleben zentral sei. Das zeigt sich auch in der geübten breiten Ausdifferenzierung musikalischer Möglichkeiten: ‹Für jeden› sollte etwas dabei sein.» Dagegen bleibe die «Frage nach dem Verständnis von ‹aktiv› und der ‹participatio actuosa› als geistliche Anteilnahme» 50 Jahre nach dem Konzil offen. Ernüchternd gar die Feststellung: «Das Mitsingen und Mitbeten wird nicht als Form einer aktiven Teilnahme wahrgenommen».3

Es bleibt nicht leicht, die Interessen einander anzunähern. Denn die Tonsprachen der Gegenwart einschliesslich Popmusik und Jazz in Gottesdienste einzupassen, ist die grosse Herausforderung. Auch wenn sich allgemein die Klangwelten in Kirchenräumen erweitert haben – wie die Kirchenklangfeste cantars in der Schweiz 2011 und 2015 dokumentierten –, sei die Frage gestellt: Wie gelingt es, die zum Gottesdienst Versammelten in ihren unterschiedlichen Klang-Erwartungen abzuholen?

Einfachheit und Klang aus der Jetzt-Zeit

Es ist nicht der Klang des musikalischen Mainstreams, der im Gottesdienst zu hören ist. «Musik per Klick» ist im Alltag als Berieselung omnipräsent.4 Ihr steht der Anspruch entgegen, Musik aus zeitgenössischem Spektrum im Gottesdienst nicht trivial zu vermitteln. Ein von der Klassik her geprägter Cellist äussert zu seinen Grenzgängen: «In der hektischen Zeit von heute suchen die Leute im Konzert wohl eher eine neue Einfachheit. Etwas, das sie berührt, nicht trivial ist und sie aber nicht überfordert. Die Besucher wollen ein wenig Klassik mit Orchester, und die Filmmusik ermöglicht, dass sie es verstehen können. Wir geben noch eine gute Portion Rockmusik dazu, weil uns eben auch Rockmusik gut gefällt (lacht).»5 Einfachheit, im Klang wie Filmmusik, nicht als biedere Anpassung an den Geschmack der Leute, nicht «trivial» in der Bedeutung von gewöhnlich und allen zugänglich, bekannt und verständlich? Sind der Vielfalt an musikalischem Ausdruck in liturgischer Praxis Grenzen gesetzt?

Kritisch nahm zum Beispiel Alois Koch die kirchenmusikalische Befindlichkeit unter die Lupe und betonte die «Diskrepanz zwischen pastoralen und theologischen Anliegen». Trivialismus unterschiedlichster Art säkularisiere immer wieder die Kirchenmusik: «Populärer Trivialismus, wo soziologisch gesteuertes Marketingdenken dominiert, banaler Trivialismus, wo dem Irrationalen künstlerischer Kommunikabilität misstraut wird, funktionaler Trivialismus, wo die participatio actuosa allzu vordergründig verstanden wird, historistischer Trivialismus, wo die Pflege des Schatzes der Kirchenmusik auf das bloss Kulturelle reduziert wird, autistischer Trivialismus, wo unkritischer Emotionalismus mit innerer Bewegtheit verwechselt wird, und manieristischer Trivialismus, wo egozentrische Ansprüche Kommunikabilität tatsächlich verunmöglichen.» Diese Säkularisierung habe das Konzil nicht beabsichtigt, sei aber Folge eines anders verstandenen, weil «individuell vereinnahmenden, oft auch anmassend interpretierten aggiornamento».6 Zunehmend präge Trivialmusik die liturgische Praxis. Damit sei die Kirchenmusik von einer Säkularisierung gekennzeichnet, welche die Fragestellung nach jeglichem Sakralitätsbegriff historisch oder musikimmanent relativiere. Folglich muss es risikoreich bleiben, Musik im Gottesdienst zu realisieren. Wenig sichtbar wird die Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten aus je eigenem kulturellem Umfeld. Angesichts der hochsensiblen Gemengelage erstaunen Ergebnisse von empirischen Untersuchungen nicht. Sie geben Anlass weiterzudenken.

Wahrnehmungen und Erwartungen an evangelische Gottesdienste

Gottesdienste werden unterschiedlich erlebt.7 Empirisch kommt man zur Feststellung: «Offensichtlich provoziert (ebenso wie bei der Liturgie) das Sprechen über Musik im Gottesdienst immer auch eine Selbstverortung im Spektrum der Musikstile.» Für die Befragten vermittelt Musik Emotionen, öffnet Herz und Seele, dient der Verkündigung, erzeugt Geborgenheit und Freude, ist ein Gemeinschaftserlebnis, ist Trägerin inhaltlicher Aussagen. Die musikalischen Vorlieben divergieren je nach «Milieu-und Generationenabhängigkeit». Den einen ist traditionelles Liedgut mit der interessanten Harmonik, klassische Musik als ästhetischer Genuss, klassisches Liedgut als bekannte und vertraute Grösse wichtig. Die Formulierung «Das ist mein Besitz» markiert die subjektiv hohe Bedeutung. Auf der anderen Seite gilt der Vorzug modernen Liedern, welche als «Entsprechung des Eigenen» gelten, abwechslungsreich und lebendig sowie fröhlich seien. Sie beinhalten für Einzelne in wesentlich höherem Masse «Lebensfreude» als die älteren Kirchenlieder. Weniger gewünscht wird lautes und dominantes Orgelspiel beim Begleiten des Gemeindegesanges, dafür besser Untermalung mit Klavier oder Gitarre. Die Bevorzugung traditioneller Lieder geht einher mit Öffnung für neue wie auch die Offenheit für unterschiedliche musikalische Richtungen. Im Quervergleich mit der Wiener-Umfrage ist bemerkenswert, dass sich näheres Hinschauen auf die unterschiedliche Nähe von Mitfeiernden zur konkreten Gestalt einer Gottesdienstfeier aufdrängt. Der Herausforderung haben sich Pastoralverantwortliche ebenso zu stellen wie Verantwortliche für die Musik im Gottesdienst.

Ein katholischer Blick auf Christmetten

Am Fallbeispiel Christmette reflektierte Martin Klöckener in theologischer Absicht die Beziehungen zwischen Liturgie und Kultur und äusserte die Hoffnung, dass «die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen der nächsten Generation ihre Christmette vielleicht theologisch adäquater, kulturell angemessener und immer noch menschengerecht feiern werden».8 Tatsächlich zeigt sich hier ein Dilemma: Kulturtragende Kräfte, wie es Musizierende im Gottesdienst ihrem Selbstverständnis nach sein wollen, stehen unterschiedlichsten Ansprüchen gegenüber. In Zusammenarbeit mit Verantwortlichen für die konkrete Liturgieform haben sie den Auftrag, Musik als integrierten Bestandteil im Gottesdienst zu realisieren, gestützt auf das «theologisch legitimierte, hohe Gut der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme aller Gläubigen an der Liturgie, das ja auch deren ganzheitliches Sicheinbringen verlangt».

Heiligabend steht unter kulturell hoher Erwartung, und die Einschränkung auf bestimmte Stilideale in Gottesdiensten konkurrenziert an Feiertagen besonders mit den kulturellen Milieus der Gegenwart. Das nüchterne Fazit über die geschilderten Christmetten zeugt darum von grosser Ratlosigkeit: «So sehr sich die Träger und ein erheblicher Teil der Mitfeiernden mit dem jeweiligen Musikschaffen identifizierten und manche von ihnen dezidiert deswegen zu der einen oder anderen Christmette kamen, entsprach keine der drei musikalischen Inszenierungen dem, was Musik im Gottesdienst heute zu leisten hat.» Ein perfektes Dilemma? Die Anerkennung stilistischer Vielfalt scheint ausgeschlossen. Die Praxis verlangt weiterhin danach, rechtzeitig auszuhandeln, wie Musik sinnvoll in die Feier des Glaubens in der Weihnachtsnacht integriert werden kann.

 

1 Die Übersicht über Musik in der Kirche in Deutschland listet mehr auf, als dass sie die Wahrnehmung von Gottesdiensten durch empirische Befunde erhärtet. Vgl. Stefan Klöckner: www. miz.org/static_de/themenportale/einfuehrungstexte_ pdf/kloeckner.pdf (Zugriff: 4. 11. 2016)

2 Sieghard Gall: Wahrnehmungen und Erwartungen von Gottesdienst. Eine empirische Untersuchung, in: Heiliger Dienst 59 (2005) 161–172. Hier stichwortartig. Weiterführend Schwier, Helmut & Gall, Sieghard (Hg.). 2008. Predigt hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption. Schwier, Helmut (Hg.). Heidelberger Studien zur Predigtforschung, Bd. 1. Berlin: LIT. Gall, Sieghart & Schwier, Helmut. 2013. Predigt hören im konfessionellen Vergleich. Heidelberger Studien zur Predigtforschung, Bd. 2. Berlin: LIT.

3 Siehe die Befunde in der Broschüre Umfrage Gottesdienst: Eine exemplarische Momentaufnahme des liturgischen Lebens und der «Sonntagskultur» in der Erzdiözese Wien, Hrsg. Liturgiereferat, Wien 2015, 32 und 29.

4 Zu angemessener «Beschallung» vgl. Peter Androsch / Reinhard Kern: Auf dem Weg zu einer «Ethik der Beschallung» in: Theologisch-Praktische Quartalsschrift 164 (2016) 227–236.

5 Der Grenzgang der Mozart Heroes aus Luzern spiegelt sich im Interview mit Phil Scherrer (Gitarre) und Chris Krebs (Cello), NLZ 14. 10. 2015 / Nr. 237, 9. Konzerte an Stilgrenzen mutieren z. Zt. zu Musikgottesdiensten. Vgl. den Konzertbericht über die «musikalische Weltvereinigung im Zeichen des Klezmer» von Gerda Neunhoefer: Sogar Bond schlich sich in die Gebete ein, NLZ 23. 2. 2016, 7.

6 Alois Koch: Zwischen Tradition und Säkularisierung. Eine Bestandsaufnahme kirchenmusikalischer Befindlichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, In: Martin Hobi (Hg.): Im Klangraum der Kirche, Aspekte – Positionen – Positionierungen in Kirchenmusik und Liturgie, Zürich, 2007, 251–266, 260.

7 Vgl. Anm. 2 und Uta Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011, 3.1.4 Musikalische Gestaltung 116–131, 117, 125ff.

8 Martin Klöckener: Kirchenmusikalische Gesetzgebung im Spannungsfeld von Liturgie und Kultur, In: Martin Hobi (Hg.): Im Klangraum der Kirche, Aspekte – Positionen – Positionierungen in Kirchenmusik und Liturgie, Zürich, 2007, 207–229. Folgende Zitate 225, 211, 212, 214.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)