Dietrich Bonhoeffer: «Wie einen Ahnungslosen hast du mich gefasst» (I)

«Christentum bedeutet Entscheidung» (9,485).1 Mit diesem von jugendlichem Pathos erfüllten Satz eröffnete der neunzehnjährige Student der evangelischen Theologie, Dietrich Bonhoeffer, seine erste Predigt. Er wird zu diesem Zeitpunkt wohl «kaum geahnt haben, in welchem Masse das Wort Entscheidung zu einem zentralen Begriff seines Lebens und seiner Theologie werden» sollte.2 In vieles ist er erst «durch die Umstände der Zeit und die Zustände in der Kirche (…) Schritt für Schritt hineingeraten ».3 Auch ihm hat sich sein Glaubensweg nur nach und nach erschlossen, und seinen Entscheidungen ging jeweils ein intensives inneres Ringen voraus. Daraus ist «seine manchmal übergrosse Bedenklichkeit » ebenso zu verstehen wie «seine Gewissheit, hinter eine Entscheidung nicht mehr zurück zu können».4 Im Folgenden soll nun Bonhoeffers Ringen um den ihm gemässen und von Gott «gegebenen Ort»5 seines Lebens und Wirkens nachgezeichnet werden.6

Entscheidung zum Theologiestudium

Dietrich Bonhoeffer kam aus einer grossbürgerlichen Familie. Er wurde am 4. Februar 1906 als sechstes von acht Geschwistern in Breslau geboren. Sein Vater war dort Professor für Psychiatrie und Neurologie, bis er 1912 nach Berlin berufen wurde. Die Mutter entstammte einer alten Theologenfamilie. Als eine der ersten Frauen absolvierte sie die Lehrerinnenausbildung. Sie unterrichtete ihre Kinder teilweise selbst und erteilte ihnen auch den Religionsunterricht. Zur institutionellen Kirche hatte man so gut wie keinen Bezug, und man nahm auch kaum am Gemeindegottesdienst teil. In der Familie pflegte man ein enges und vertrauensvolles Verhältnis zueinander. Einen besonderen Stellenwert besass das gemeinsame Musizieren. Dietrich wurde ein ausgezeichneter Pianist, sodass man erwog, ihn zum Musiker ausbilden zu lassen. Es löste daher Verwunderung, ja Enttäuschung aus, als er mit dreizehn Jahren zum ersten Mal den Wunsch äusserte, Theologie zu studieren. Ein Grund dafür mag der frühe Tod seines zweitältesten Bruders gewesen sein, der im April 1918 an der Front gefallen war und dessen Verlust die Familie tief erschütterte. Hinzu kam ein elementarer Drang Bonhoeffers nach Selbstständigkeit, die er den älteren Geschwistern gegenüber so beweisen konnte.

«Ich fange an, den Begriff ‹Kirche› zu verstehen»

Im Frühjahr 1923 begann Dietrich Bonhoeffer sein Theologiestudium in Tübingen. Doch schon nach zwei Semestern entschloss er sich zur Rückkehr nach Berlin. Zuvor jedoch unternahm er eine zweimonatige Reise nach Italien. In Rom machte er eine Erfahrung, die ihn zeitlebens prägen sollte. Erstmals trat das Phänomen Kirche in sein Gesichtsfeld – in Gestalt der römisch-katholischen Kirche. Es war vor allem das Erlebnis ihrer Universalität und ihrer Liturgie, die ihn faszinierten. In seinem Tagebuch hielt er fest: «Ich fange, glaube ich, an, den Begriff ‹Kirche› zu verstehen» (9,89). Dieser Eindruck ging so tief, dass er sich entschloss, die Kirche zum Thema seiner theologischen Dissertation zu machen. Schon 1927, mit erst 21 Jahren, reichte er diese unter dem Titel «Sanctorum Communio – Gemeinschaft der Heiligen» (DBW 1) ein. Darin zeigte er die grundsätzlich soziale Ausrichtung des Menschen und des christlichen Glaubens auf. Man kann nicht für sich selbst Christ sein, sondern nur in der Gemeinschaft der Glaubenden. In der Kirche, in ihrer Predigt, ihren Sakramenten und im Nächsten begegnet dem Menschen Jesus Christus. Bonhoeffer prägte dafür die berühmt gewordene Formel, die Kirche sei «Christus als Gemeinde existierend» (1,87).

Barcelona und Habilitation

Obwohl Bonhoeffer mit der Promotion der Weg zu einer akademischen Laufbahn offenstand, entschied er sich dafür, auch die kirchliche Ausbildung zu absolvieren, um sich beide Berufsperspektiven offenhalten zu können. So hielt er schon während der Arbeit an seiner Dissertation Kindergottesdienste. Dies galt als Voraussetzung für die Erlangung des Ersten Theologischen Examens vor dem Prüfungsamt seiner Kirche. Von Februar 1928 bis Februar 1929 absolvierte er ein Vikariat in der deutschen evangelischen Auslandsgemeinde in Barcelona. Die Zeit dort wurde für ihn zur ersten Begegnung mit der ökumenischen Christenheit. «Ihm wurde hier zum ersten Mal deutlich, dass die christliche Kirche keine nationale, sondern eine weltweite Grösse ist – eine Einsicht, die für seinen Einsatz in der ökumenischen Bewegung wenige Jahre später, sein Friedensengagement und seine Kritik am völkischen Denken der Deutschen Christen richtungweisend sein sollte.»7 In Barcelona lernte er zudem einen Gegensatz zwischen Armen und Reichen kennen, wie er ihm bisher noch nie so augenfällig begegnet war. Dies schärfte seinen Blick für ethische und soziale Fragen. Nach seiner Rückkehr entschied sich Bonhoeffer dazu, das Zweite Theologische Examen vorzubereiten und sich zu habilitieren. Schon im Sommer 1930 – er war jetzt erst 24 Jahre alt – schloss er sein Theologiestudium mit der Habilitation ab.

Studienjahr in New York

Da Bonhoeffer für die Ordination zum Pfarrer noch zu jung war, nahm er das Angebot eines Stipendiums für ein Studienjahr am «Union Theological Seminary » in New York wahr. Das Leben in diesem Seminar empfand er als sehr anregend, und es vermittelte ihm bleibende Freundschaften. Die dort gelehrte Theologie aber und die kirchliche Landschaft in den USA enttäuschten ihn. «Man kann in New York fast über alles predigen hören, nur über eines nicht oder doch so selten, (…) nämlich über das Evangelium Jesu Christi» (10,272). So besuchte er bevorzugt Veranstaltungen mit ethischen Themen und befasste sich intensiv mit dem geistlichen Leben und den gesellschaftlichen Problemen der Schwarzen. Er war beeindruckt von ihrer «religiösen Kraft und Ursprünglichkeit » (10,221). Umso schmerzlicher war für ihn die erstmalige Konfrontation mit dem Übel rassistischer Ideologien, auch unter Pastoren (10,224). Er wird sich mit diesem Übel bald auch in seiner Heimat auseinanderzusetzen haben.

Engagement in Universität und ökumenischer Bewegung

Zurückgekehrt nach Berlin, nahm Bonhoeffer im Herbst 1931 seine Lehrtätigkeit als Privatdozent an der Berliner Theologischen Fakultät auf. Am 15. November 1931 wurde er ordiniert. Neben seiner Dozententätigkeit hatte er auch das neu errichtete Studentenpfarramt an der Technischen Hochschule zu übernehmen. Hier bekam er es mit jungen Menschen zu tun, die der Kirche vollkommen entfremdet waren und ihn erstmals hautnah mit dem Problem einer säkularisierten Welt konfrontierten. In einem Brief an einen Oberkirchenrat stellte er die grundsätzliche Frage: «Ob unsere Zeit vorüber ist und das Evangelium einem anderen Volk gegeben ist, vielleicht gepredigt mit ganz anderen Worten und Taten? (…) Ich bin jetzt Studentenpfarrer an der Technischen Hochschule, wie soll man diesen Menschen solche Dinge predigen? Wer glaubt denn das noch? Die Unsichtbarkeit macht uns kaputt. Wenn wirs nicht in unserem persönlichen Leben sehen können, dass Christus da war, dann wollen wirs wenigstens in Indien sehen, aber dies wahnwitzige, dauernde Zurückgeworfenwerden auf den unsichtbaren Gott selbst – das kann doch kein Mensch mehr aushalten» (11,33). Der Plan einer Indienreise mit einem Besuch bei Gandhi taucht bei Bonhoeffer zu dieser Zeit mehrfach auf. Er erhoffte sich, dabei neue Formen des Gemeinschaftslebens kennen zu lernen, die ihn bei seiner eigenen Suche nach alternativen Gestalten lebendiger christlicher Gemeinschaft hätten inspirieren können. Doch daraus wurde nichts (vgl. 5,165).

Zum Studentenpfarramt kam im Rahmen der kirchlichen Tätigkeit Bonhoeffers noch der Konfirmandenunterricht in einem Arbeiterbezirk hinzu, den er als «so ungefähr die tollste Gegend von Berlin, mit den schwierigsten sozialen und politischen Verhältnissen » (11,50) bezeichnete. Dazu kamen noch verschiedene Ämter in der ökumenischen Bewegung. Durch seine Auslandsaufenthalte war er dafür geradezu prädestiniert. Im September 1931 wurde er zum Jugendsekretär des «Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen» gewählt. In dieser Eigenschaft nahm er an zahlreichen ökumenischen Treffen im In- und Ausland teil. Die Situation des Weltbundes war allerdings nicht einfach. Der in Deutschland und Frankreich sich gerade auch in der Jugend erschreckend ausbreitende Nationalismus stellte die ökumenische Arbeit grundsätzlich in Frage. Bonhoeffer war jedoch überzeugt, dass «die Kirche allein der Boden sein kann, auf dem das sonst so fragwürdige internationale Gespräch offen und sachlich geführt werden kann» (11,362).

Was die Tätigkeit an der Berliner Theologischen Fakultät betrifft, fühlte sich Bonhoeffer dort nicht besonders wohl. Die Fakultät war einst eine Hochburg jener liberalen Theologie, der Karl Barth und die so genannte Dialektische Theologie den Kampf angesagt hatten. Man wusste um die – wenn auch kritische – Nähe Bonhoeffers zu Barth, und so betrachteten ihn die Kollegen als Aussenseiter. Unter den Studierenden jedoch hatte Bonhoeffer bald einen stabilen Stamm von Hörerinnen und Hörern. Einer von ihnen beschrieb ihn so: «Er selber sah aus wie ein Student, wenn er aufs Katheder stieg; aber dann fesselte, was er zu sagen hatte, uns alle derart stark, dass man nicht mehr um des sehr jungen Mannes willen kam, sondern um seiner vorgetragenen Sache willen (…). Ich habe nie eine Vorlesung gehört, die mich annähernd so beeindruckt hat wie diese.»8 Aus dem Stamm der Studierenden entwickelte sich ein fester Kreis, der sich mit Bonhoeffer zu Diskussionsabenden, Ausflügen und Wochenenden traf. Neben den Diskussionen über politische, soziale und kirchliche Probleme gehörten dazu auch tägliche Andachten, Bibelarbeiten, gemeinsames Singen, Spielen, Kochen und Sport. Einige seiner späteren Helfer im Predigerseminar und der Weggenossen im Kirchenkampf stammten aus dieser Runde.

Vom Theologen zum Christen

Irgendwann nach seiner Rückkehr aus den USA, noch vor 1933, muss es im Leben Bonhoeffers zu einer völligen Neuorientierung gekommen sein. Sein Freund und erster Biograf Eberhard Bethge spricht von einer «Wendung des Theologen zum Christen».9 Bonhoeffer scheint damals mit niemandem darüber gesprochen zu haben. Am rückhaltlosesten hat er sich zu dieser existentiellen Wende rückblickend in einem Brief an eine ihm nahestehende Freundin geäussert. Darin urteilt er sehr streng über seine Vergangenheit: «Ich stürzte mich in die Arbeit in sehrunchristlicher und undemütiger Weise. Ein wahnsinniger Ehrgeiz, den manche an mir gemerkt haben, machte mir das Leben schwer und entzog mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitmenschen. Damals war ich furchtbar allein und mir selbst überlassen. (…) Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert hat und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel. (…) Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. (…) Ich hatte auch nie oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles anders geworden. (…) Das war eine grosse Befreiung. Da wurde es mir klar, dass das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muss, und Schritt für Schritt wurde es deutlicher, wie weit das so sein muss» (14,112 f.).

Beginnender Kirchenkampf

Diese existentielle Veränderung Bonhoeffers fiel auch einem seiner amerikanischen Studienfreunde auf, als er ihn im Frühjahr 1933 in Berlin besuchte. «Er hatte die Einstellung seines Freundes zu Kirche und Gottesdienst in New York als recht locker empfunden. Jetzt fiel ihm auf, dass sie einem tiefen Ernst gewichen war.»10 Ernst geworden war inzwischen auch die politische Lage in Deutschland. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. «Hitler versuchte, durch geschickte Verwendung christlichreligiöser Motive die Kirchen zu gewinnen und auch sonst den Eindruck zu erwecken, letztlich verfolge man die gleichen Anliegen und die Kirchen würden im neuen System Einfluss besitzen. Viele Kirchenvertreter erlagen diesen verlockenden Aussichten.»11 Bonhoeffer war fassungslos, als er sehen musste, «dass Pfarrer und Professoren, zu denen er aufsah, sich in ihrer ‹Treue zu Führer und Reich› von niemandem überbieten lassen wollten».12 1932 wurde die «Glaubensbewegung Deutsche Christen» gegründet, eine Gruppierung innerhalb der evangelischen Landeskirchen, deren Ziel es war, nationalsozialistisches Gedankengut in die Kirche einzubringen. Ihren Richtlinien war u. a. zu entnehmen: «Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen, uns Gottes Gesetz ist. (…) In der Judenmission sehen wir eine schwere Gefahr für unser Volkstum. Sie ist das Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper (…). Insbesondere ist die Eheschliessung zwischen Deutschen und Juden zu verbieten.»13 Bald wurde auch der Wunsch nach einer einheitlichen, durch das Führerprinzip geordneten Reichskirche mit einem Reichsbischof an der Spitze laut. Unmittelbare Auswirkung auf das kirchliche Leben hatte jedoch zunächst das Vorhaben der Regierung, den «Arierparagraphen» auch in der Kirche einzuführen, was bedeutete, dass alle Pfarrer jüdischer Herkunft aus dem kirchlichen Dienst zu entlassen wären. Durch dieses Ansinnen mischte sich der Staat in einer Weise in fundamentale kirchliche Angelegenheiten ein, die nach der Überzeugung Bonhoeffers das Wesen der Kirche zerstörten. Er antwortete darauf im Juni 1933 mit dem Vortrag «Die Kirche vor der Judenfrage». Darin findet sich die berühmte Formulierung, eine letzte Möglichkeit kirchlichen Handelns gegenüber dem Staat könne darin bestehen, «nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen» (12,353). Bei den Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 erlangten die «Deutschen Christen» in den meisten evangelischen Landeskirchen die Mehrheit. Im September 1933 beschloss die «Braune Synode» – so genannt, weil zahlreiche Synodale in brauner Uniform antraten – den «Arierparagraphen» in der Kirche der Altpreussischen Union, zu der Bonhoeffer gehörte, einzuführen. Damit war für Bonhoeffer die Kirchenspaltung vollzogen. Als Reaktion darauf gründete er zusammen mit Martin Niemöller und anderen den «Pfarrernotbund », dem sich bis zum Ende des Jahres in Deutschland rund sechstausend Pfarrer anschlossen.

Erste Flucht: London

Für Bonhoeffers eigenen Lebensweg hatten diese Veränderungen weitreichende Konsequenzen. Er fühlte sich den Herausforderungen des nun voll entbrannten Kirchenkampfes nicht mehr gewachsen und in seinem Eintreten für klare Entscheidungen von den Freunden oft allein gelassen. So entschloss er sich, ab Oktober 1933 das ihm angebotene Pfarramt in zwei deutschen Auslandsgemeinden in London zu übernehmen. Nicht alle hatten jedoch Verständnis dafür, dass er sich nun aus Deutschland zurückzog, und auch er selber wusste, dass es eine Art Flucht war. Man hat diesen Schritt deshalb schon als «die erste Flucht in seinem Leben»14 bezeichnet. Karl Barth schrieb ihm ungehalten: «Sie müssten jetzt nur das Eine bedenken, dass Sie ein Deutscher sind, dass das Haus Ihrer Kirche brennt, dass Sie genug wissen und was Sie wissen gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein, und dass Sie im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren müssten!» (13,33). Von London aus verfolgte Bonhoeffer weiterhin aufmerksam die politische und kirchliche Entwicklung in Deutschland. Er forderte ein kirchliches Lehrzuchtverfahren, um die Theologie der «Deutschen Christen» endlich als häretisch zu erklären. Rasch gelang es ihm, Führungspersönlichkeiten der Ökumene umfassend über den Kirchenkampf in Deutschland zu informieren und sie zu deutlichen Stellungnahmen zu bewegen. Am wichtigsten wur-de sein Kontakt zum Präsidenten des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum, dem anglikanischen Bischof von Chichester, George Bell. Gerade angesichts einer möglichen Trennung der kirchlichen Opposition von der Reichskirche hielt Bonhoeffer die ökumenische Unterstützung für unerlässlich.

Die Predigt zu Jeremia 20,7

Im Januar 1934 spitzte sich die Lage für die Kirche in Deutschland zu. Es kam zu Bedrohungen und ersten Verhaftungen. Für den 25. Januar war ein Treffen der evangelischen Kirchenführer bei Hitler vorgesehen. Angesichts der Kompromissbereitschaft der oppositionellen Kirchenführer und ihres mangelnden politischen Mutes ahnte Bonhoeffer Schlimmes. So hielt er seiner Londoner Gemeinde am 21. Januar 1934 eine Predigt, deren Bezug zu den zeitgeschichtlichen Ereignissen nicht zu überhören war. Der von Bonhoeffer gewählte Schrifttext war Jeremia 20, 7: «Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen. » Diese Jeremiaverse hatte Bonhoeffer schon in Barcelona in den Mittelpunkt eines Gemeindevortrags zum Thema «Die Tragödie des Prophetentums und ihr bleibender Sinn» gestellt (10,285–302). Er beschrieb hier den Propheten als einen von Gott berufenen Menschen, für den diese Berufung zum Wendepunkt des Lebens wird. In der Londoner Predigt nun weiss man schon bald nicht mehr, ob Bonhoeffer hier von Jeremia oder von sich selbst spricht. «Die Konturen des prophetischen Auftrags an Jeremia und die erahnten Zumutungen für Bonhoeffer selbst erscheinen hier wie überblendet; sie sind nicht mehr scharf voneinander unterscheidbar.»15 Die Predigt beginnt in der dritten Person: «Jeremia hat sich nicht dazu gedrängt, Prophet Gottes zu werden (…), er hat sich gewehrt, er wollte ausweichen (…), aber auf der Flucht packt ihn, ergreift ihn das Wort, der Ruf; er kann sich nicht mehr entziehen (…). Phantast, Sturkopf, Friedensstörer, Volksfeind hat man ihn gescholten, hat man zu allen Zeiten bis heute die gescholten, die von Gott besessen und gefasst waren, denen Gott zu stark geworden war.» Die Mitte der Predigt bildet ein langes Gebet in der Ich-Form, in dem sich Bonhoeffer auf geradezu dramatische Weise mit dem Geschick Jeremias identifiziert: «Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Wie einen Ahnungslosen hast du mich gefasst – und nun kann ich nicht mehr von dir los, nun schleppst du mich davon als deine Beute (…). Konnten wir es wissen, dass deine Liebe so weh tut, dass deine Gnade so hart ist? Du bist mir zu stark geworden und hast gewonnen (…), da konnte ich nicht mehr zurück, da war die Entscheidung über mein Leben gefallen. Nicht ich habe entschieden, du hast entschieden. (…) Gott, warum bist du uns so furchtbar nahe?» (13,347 ff.) Erstaunlicherweise hat man in der Bonhoefferforschung die biografische Dimension dieser Predigt lange kaum beachtet.16 Sie ist «ein persönliches Zeugnis eines Lebens, wie es bei Bonhoeffer in solcher Plastizität nur an dieser Stelle vorkommt».17 Liest man «einzelne Passagen dieser Predigt in Kenntnis des Vortrags von Barcelona, im Wissen um Bonhoeffers Vorliebe gerade für diesen Propheten und in Kenntnis von Bonhoeffers prophetischem Weg in die Verschwörung und in den Tod, dann wird mehr und mehr deutlich, dass in der Figur des Propheten Jeremia Bonhoeffer hier tief und entscheidend von sich spricht».18 Die existenzielle Zuspitzung dieser Predigt wird in ihrer ganzen Tragweite erst erkennbar, «wenn man sie von seinem Ende her liest. Dann drängt sich der Eindruck auf, als habe er selber in der Predigt prophetisch vorweggenommen, was einmal im Rückblick auf sein Leben zu sagen sein wird».19

In der Bekennenden Kirche

Bonhoeffers Befürchtungen hinsichtlich des Treffens vom 25. Januar 1934 wurden weit übertroffen. Die Versammlung stellte sich geschlossen hinter Reichsbischof Ludwig Müller und erklärte sich gewillt, die von ihm erlassenen Massnahmen und Verordnungen durchzuführen. Als Reaktion darauf erklärte sich die kirchliche Opposition am 22. April zur rechtmässigen Evangelischen Kirche Deutschlands und berief auf den 29. Mai eine gesamtdeutsche Bekenntnissynode nach Wuppertal-Barmen ein – das Gründungsdatum der Bekennenden Kirche. Sie verabschiedete die berühmte «Barmer Theologische Erklärung». In sechs Artikeln hielt sie fest, wozu sie sich bekannte, und verwarf die Lehren der «Deutschen Christen» als Irrlehren. Auf einer zweiten Synode in Berlin-Dahlem vom 20. Oktober rief sie ein kirchliches Notrecht aus und bestellte eigene Leitungsorgane, weil man nicht mehr bereit war, von einer für häretisch erklärten Kirchenleitung Weisungen entgegenzunehmen.

Bonhoeffer begrüsste die Gründung der Bekennenden Kirche und die Barmer Erklärung. In ihnen hatte er seine Kirche wiedergefunden. Im April 1935 kehrte er nach Deutschland zurück, um, gebeten vom Bruderrat der Bekennenden Kirche, Leiter eines der fünf neugegründeten Predigerseminare zu werden. Kurz zuvor hatte er in England noch eine Reihe von christlichen Kommunitäten und Ausbildungsseminaren besucht, um Anregungen zu sammeln. In einem Brief bekannte er: «An die Universität glaube ich nicht mehr, habe ja eigentlich nie daran geglaubt – zu ihrem Ärger. Die gesamte Ausbildung des Theologienachwuchses gehört heute in kirchlichklösterliche Schulen, in denen die reine Lehre, die Bergpredigt und der Kultus ernstgenommen werden – was gerade alles drei auf der Universität nicht der Fall ist und unter gegenwärtigen Umständen unmöglich ist» (13,204).

 

1 Die Schriften Bonhoeffers werden zitiert nach der kritischen Gesamtausgabe: Dietrich Bonhoeffer Werke, Bände 1–17 [= DBW 1–17]. Hrsg. von Eberhard Bethge u. a. Gütersloh 1986 –1998. Zitate daraus werden im vorliegenden Artikel unmittelbar im Text in Klammer mit Angabe von Bandnummer und Seitenzahl nachgewiesen.

2 Ferdinand Schlingensiepen: Es gibt immer nur den entscheidenden Augenblick. Gelebte Entscheidung und Gottesgewissheit bei Dietrich Bonhoeffer, in: Mariano Delgado / G otthard Fuchs (Hrsg.): Die Kirchenkritik der Mystiker, Bd. II: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Freiburg-Stuttgart 2005, 133–163, hier 133.

3 Werner Kallen: Dietrich Bonhoeffer (1906 –1945): Vom Geheimnis der Freiheit, in: Geist und Leben 79 (2006), 11–26, hier 15.

4 Jorgen Glenthoj: Dietrich Bonhoeffers Weg z wischen Widerstand und Ergebung, in: Reformatio 19 (1970), 504 –512, hier 507.

5 Vgl. dazu 6 ,267: «Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun, kann die Aufgabe sein.» Ebenso 14,146: «Entweder ich bestimme den Ort, an dem ich Gott f inden will, oder ich lasse Gott den Ort bestimmen, an dem er gefunden sein will.»

6 Zur Biografie Bonhoeffers vgl. vor allem Christiane Tietz: Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand. München 2013; Ferdinand Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer 1906 –1945. Eine Biographie. München 22006. – Tietz und Schlingensiepen stützen sich auf das grosse Standardwerk von Eberhard Bethge und ergänzen es um neuere Erkenntnisse: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie. Gütersloh 1967.

7 Tietz (wie Anm. 6), 22.

8 Zitiert nach Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906 –1945 (wie Anm. 6), 116. – Vgl. auch: Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer. Ein Almanach. Hrsg. von Wolf-Dieter Zimmermann. München 21965, 42–51.

9 Bethge (wie Anm. 6), 246.

10 Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906 –1945 (wie Anm. 6), 112.

11 Tietz (wie Anm. 6), 47.

12 Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906 –1945 (wie Anm. 2), 139.

13 Zitiert nach Tietz (wie Anm. 6), 48.

14 So R. Grunow, Mitglied des Bruderhauses von Finkenwalde, zitiert nach Werner Kallen: In der Gewissheit seiner Gegenwart: Dietrich Bonhoeffer und die Spur des vermissten Gottes. Mainz 1997, 6 4, Anm. 216.

15 Kallen (wie Anm. 3), 14.

16 Vgl. Peter Zimmerling: Bonhoeffer als Praktischer Theologe. Göttingen 2006, 94.

17 Kallen (wie Anm. 3), 14.

18 Ebd., 66.

19 Zimmerling (wie Anm. 16), 96.

Fridolin Wechsler

Fridolin Wechsler

Dr. theol. Fridolin Wechsler war von 1989 bis 2005 Dozent für Dogmatik und Liturgik am Katechetischen Institut der Theologischen Fakultät Luzern