Der Beitrag der Sozial- und Humanwissenschaften zu Glaube und Kirche (I)

Ein «Nebenthema» des Zweiten Vatikanischen Konzils1

Im September 1965 beklagte der mexikanische Bischof Sergio Mendez Arceo (von Cuernavaca) im Namen weiterer lateinamerikanischer Bischöfe und insbesondere von zehn mexikanischen Bischöfen in der Konzilsaula: «Psychologische und anthropologische Faktoren, die unser Verständnis des individuellen Menschen betreffen, werden vom Zweiten Ökumenischen Konzil, das sich nun in Rom trifft, in seinem Schema ‹Über die Kirche in der modernen Welt› übersehen.»2 Besonders betonte der Bischof, das Konzil müsse die Psychoanalyse und die Lehren Freuds als «nützliche Methode der Reinigung» anerkennen. Es gebe kein pastorales Feld, in dem Psychoanalyse nicht nützlich wäre. In der Medienwelt wurden diese Rede und ihr Anliegen viel beachtet – nicht bzw. kaum in der Konzilsaula.3 Aktuelle Diskussions-, Kommentar- und Sammelbände gehen wenig bis gar nicht darauf ein.4

Aus der Sicht damaliger wie heutiger Theologinnen und Theologen ist nur ein völliges Nebenthema, was das Konzil in seiner Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» in einer Sache als Erwartung ausdrückte, die höchste Aufmerksamkeit von der ureigenen Sendung der Kirche her verdient: dass nämlich die Sozial- und Humanwissenschaften einen Beitrag «zu einem reineren und reiferen Glaubensleben » der Gläubigen leisten und sie sehr für die Seelsorge empfohlen werden (vgl. GS 62). Wörtlich heisst es in GS 62: «In der Seelsorge sollen nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und der Soziologie, wirklich beachtet und angewendet werden, so dass auch die Laien zu einem reineren und reiferen Glaubensleben kommen. » Im Lateinischen steht jedoch statt «Laien» «fideles», so dass richtiger mit «Gläubige» übersetzt würde und der Klerus eingeschlossen ist. Psychologie und Soziologie werden als förderlich für ein reineres und reiferes Glaubensleben eingeschätzt. Kann das eine Nebensache für die Kirche, die Theologie, die Seelsorge und die Seelsorger/innen sein? Einen solchen Beitrag erwartete das kirchliche Lehramt von Psychologie und Soziologie keineswegs immer.

Vor einem näheren Eingehen auf die Konzilsaussage in ihrem Kontext wird im Folgenden zuerst mit Konzentration auf die Psychologie die spannungs- und konfliktreiche Vorgeschichte dieser «profanen Wissenschaft» im Verhältnis zu christlichem Glauben und Kirche skizziert; nach der Textinterpretation werden einige wenige Implikationen und Elemente der Wirkungsgeschichte angesprochen.

1. Eine spannungs- und konfliktreiche Vorgeschichte

«Psychologie» oder «Verhaltenswissenschaft» ist heute eine sehr gefragte universitäre Disziplin. Auch das war nicht immer so, lange war sie Teil der Philosophie und wurde von vielen als Geisteswissenschaft angesehen, der es um Verstehen geht; im akademischen Betrieb heutzutage verstehen die meisten Vertreterinnen und Vertreter sie hingegen als Naturwissenschaft, die mit empirischen Methoden menschliches Erleben und Verhalten zu erklären trachtet. In einem der meistverbreiteten Psychologie-Lehrbücher lauten ihre Ziele dementsprechend: «Die Ziele der Psychologie als Wissenschaft sind die Beschreibung, die Erklärung und die Vorhersage des Verhaltens (im weiten Sinne). Manche Autoren nehmen als weiteres Ziel die Verhaltenskontrolle hinzu. Für die anwendungsorientierte Forschung steht häufig die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen im Vordergrund.»5

Die Begriffe «Verhaltenskontrolle» und «Verbesserung der Lebensqualität von Menschen» weisen in den Bereich von Psychotherapie und Lebenshilfe, den die meisten Menschen – und auch Studienanfängerinnen und -anfänger – mit Psychologie assoziieren. Schnell wird die Schnittmenge zur Seelsorge6 erkennbar und zu Auswirkungen von religiösem Leben, wenn auch diese Definition von Psychologie von der «Psyche» oder der «Seele» gar nicht mehr ausdrücklich spricht. Vielmehr wird alles unter «Verhalten» im weiteren Sinne subsumiert, auch das seelische Erleben wie Emotionen, Kognitionen, Bewusstseinszustände oder Ähnliches.

In dieser Definition ihrer Ziele (die zugleich ihre Aktivitäten darstellen) sind Elemente der Vorgeschichte der Psychologie als Wissenschaft kondensiert, die im Folgenden kurz skizziert werden, ansatzweise verbunden mit ihren Konsequenzen im Blick auf christlichen Glauben und Kirche.7 Gewiss muss für das Herausstellen grundlegender Ideen die Komplexität der Ansätze reduziert werden; anders als hier geschieht dies ohnehin in vielen Rezeptionsprozessen unbeabsichtigt, erst recht in der vulgarisierenden Verbreitung von Ideen mit ihrer Breitenwirkung.8

Griechische Philosophen wie Aristoteles versuchten bereits zu verstehen, wie der Mensch «funktioniert». Der Traktat «De anima» war Teildes scholastischen Curriculums und gründete auf Erfahrung, Intuition, Reflexion, Verallgemeinerung und Spekulation anstelle von sorgfältig kontrollierter Beobachtung und Experimenten, wie sie moderne Wissenschaften als «empirische» kennzeichnen. Wie kam es zum Durchbruch von deren Credo – auch für die Psychologie –, dass Erkenntnis allein von Erfahrung und Beobachtung mit den Sinnen (oder deren technischer Verstärkung) kommt – m. a. W. dass eine Erkenntnis nur dann Geltung beanspruchen kann, wenn sie anhand von empirischen Beobachtungen überprüfbar ist?

Hierfür gilt der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) als zentrale Gestalt. Denn in seinem Dualismus von «res cogitans» und «res extensa » betrachtete er die «res extensa» als Maschine und physische Dinge als mechanische Werkzeuge. Menschen unterschieden sich von anderen Lebewesen nur durch ihren Geist, ihre «res cogitans». Gewiss interessierte er sich für die Wechselwirkung der beiden «res» im Menschen, zwischen Leib und Seele, «body and mind»; das nimmt nichts von der geistesgeschichtlichen Verschärfung einer Spaltung zwischen beiden infolge seiner Konzeption.

John Locke (1632–1704) gilt als erster Empirist mit der Behauptung, jedes Kind komme mit einer Seele auf die Welt, in welche sich Erfahrungen wie in eine «tabula rasa» einschreiben. Es gebe keine angeborenen oder vorgeformten Ideen im menschlichen Geist. Alles Wissen ist empirisch, durch Erfahrung gewonnen; auch komplexe Vorstellungen sind das Ergebnis zahlreicher Verknüpfungen einfacher Gedanken. Der menschliche Geist wachse durch die Anhäufung sinnenhafter Erfahrungen.9

Der deutsche Philosoph Christian Wolff (1679–1754) verbreitete dann als Erster den Begriff «Psychologie» für eine empirische Erforschung des Geistes. Er unterteilte den Traktat in eine empirische und eine rationale Psychologie. Empirische Psychologie sammelte die Ergebnisse der Selbst- und Fremdbeobachtung, rationale Psychologie bezog sich auf die Deutung dieser Daten mit Hilfe von Verstand und Logik, welche auch auf geistige Erkenntnisse unabhängig von empirischem Wissen zurückgreifen können.10

Immanuel Kant (1724–1804) lehnte die Gültigkeit jeglicher rationaler Psychologie ab, weil er auch die Annahme einer Substanz namens «Seele » ablehnte. Wie Locke nahm er an, dass seelische Inhalte von Erfahrung herrühren. Doch glaubte er nicht, dass eine empirische Psychologie eine echte Naturwissenschaft werden könne, weil ihre Vorgänge weder gemessen noch gewogen, also nicht quantifiziert werden können. Und Introspektion verzerre durch die Selbstbeobachtung das, was sie eigentlich beobachten wolle. Damit provozierte Kant nicht nur Widerspruch, sondern auch die Entwicklung von Methoden zur Quantifizierung und Beschreibung mentaler Vorgänge, einschliesslich kontrollierter Experimente (Jacob Friederich Fries, 1773–1843; Johann Friedrich Herbart, 1776–1841).11

Von hier war es nicht weit zum Durchbruch des Positivismus des französischen Philosophen Auguste Comte (1798–1857) im 19. Jahrhundert; er liefert bis heute quasi «die» wissenschaftliche Weltanschauung. Dieser Positivismus beruht auf vier Grundannahmen:

(1) Wissenschaftliche Forschung analysiert nicht die Ursachen und das Wesen beobachtbarer Phänomene, sondern ihre gesetzmässigen Beziehungen (Korrelationen). Fragen der Metaphysik sind irrelevant und werden eliminiert.

(2) Es ist nicht die Wahrheit von Wissen, auf welche es ankommt, sondern die Gewissheit, die durch systematische Beobachtung erreicht wird und welche objektiv (intersubjektiv) kontrolliert werden kann. Aussagen sind nur haltbar, wenn sie empirisch überprüft werden können.

(3) Ergebnisse kontrollierter Beobachtung müssen miteinander verbunden und in Theorien integriert werden.

(4) Die Ansammlung von Wissen zielt sowohl auf Erklärung als auch auf Vorhersage (Prognose). Wissenschaft vergrössert die technische Beherrschung der Natur und der Gesellschaft durch die Menschheit. Unser Wissen ist stets endlich, relativ und revisionsoffen.12

Auguste Comte glaubte, dass das soziale Leben von Gesetzen und Prinzipien gelenkt wird, die wir mit den Methoden der Physik entdecken können. Nach Comte war es nur eine Frage der Zeit, bis mentale Phänomene auf mechanistische Weise untersucht werden könnten.13

Tatsächlich wurde die Physiologie in Deutschland höchst einflussreich für die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft, beginnend mit Johannes Müller (1801–1858), Ernst Weber (1795–1878), Hermann von Helmholtz (1821–1894) und Gustav Fechner (1801–1887). Dazu nur zwei Hinweise: Fechner entwickelte zum einen die sogenannte Psychophysik, in der er materielle und mentale Prozesse, physische und psychische Veränderungen miteinander in Beziehung setzte – das, was im Grunde heute auch in der modernen Hirnforschung geschieht. Zum anderen studierte Sigmund Freud am Beginn seiner Karriere Physiologie. Das prägte sein Denken, zumal von seinem Lehrer Ernst Brücke (1819–1892) her. Brücke hatte mit seinem französischen Freund und Kollegen Emil du Bois-Reymond (1818–1896) das empiristische Forschungsprogramm mit der materialistischen Option verknüpft, dass es im menschlichen Organismus nichts anderes als nur chemische oder physische Kräfte gebe. Das seelische oder mentale Leben – Emotionen, Kognitionen, Wille, Be-wusstsein – sei nichts anderes als das Ergebnis materieller Verbindungen und Verursachungen.14

Es braucht kaum weiterer Erläuterungen darüber, dass religiöse oder christliche Vorstellungen von Wirklichkeiten jenseits oder über der «Physis» («Metaphysik» im wörtlichen Sinne) und einer göttlichen Beseelung des Menschen solcher Wissenschaft inakzeptabel waren – und diese Art von Wissenschaft bzw. ihre Sicht vom Menschen als ganzen umgekehrt für Theologie und Kirche genauso. Gegenseitige Ablehnung war die Folge, päpstlich mit dem «Syllabus errorum» von 1864 und dem Antimodernismus.

Trotz des kartesischen Dualismus, britischen Empirismus, Kant’scher Aufklärung, französischen Positivismus und deutscher Physiologie mit ihrer empirischen Methodologie sei auch die Unterscheidung von Wilhelm Dilthey (1833–1911) erwähnt. Er unterschied Geistes- und Naturwissenschaften und optierte neben dem naturwissenschaftlichen Paradigma auch für eine hermeneutische Psychologie, welche menschliches Erleben und Verhalten nicht erklären, sondern verstehen will. In der akademischen Welt herrscht das naturwissenschaftliche Paradigma vor, während die Bevölkerung auch heute eher eine verstehende Psychologie erwartet. Psychologie als Wissenschaft im heutigen Sinne entwickelte sich in unterschiedlichen Linien beginnend im späten 19. Jahrhundert.

Ihre vier Hauptlinien seien hier vorgestellt:

a) 1879 richtete Wilhelm Wundt in Leipzig das Institut für experimentelle Psychologie ein. Dies gilt als die Geburtsstunde der modernen Psychologie. Er benutzte die Methoden der Physiologie, um die Inhalte und Vorgänge des menschlichen Bewusstseins zu erforschen, etwa Sinnesempfindungen, Reaktionszeiten, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Assoziationsketten. Kontrollierte Variation der Versuchsbedingungen (Variablen) und Wiederholbarkeit waren zentrale Grundsätze für valide und reliable Ergebnisse. Was dieser methodischen Strenge nicht entsprach, lehnte Wundt wissenschaftlich ab – z. B. die Arbeiten Freuds.

b) Anlässlich eines Aufenthaltes in Deutschland um seiner Gesundheit und weiterer Studien willen lernte William James die Bemühungen der deutschen Physiologie und Wilhelm Wundts um eine wissenschaftliche Psychologie kennen. Während es Wundt um die Struktur des Bewusstseins ging, wollte James wissen: Welche Funktionen erfüllt der menschliche Bewusstseinsstrom? Aus seiner Sicht diente das Bewusstsein dazu, den Organismus und sein Verhalten der Umwelt anzupassen – sonst hätte es biologisch keinen Nutzen und nicht überlebt. Bis heute gelten sein zweibändiges Werk «Principles of Psychology» und seine Gifford-Lectures «Varieties of Religious Experience» als sehr lesenswert – und als näher an moderner Psychologie als alle anderen Werke am Ende des 19. Jahrhunderts.

c) Manche modernen Psychologie-Lehrbücher (Fuchs & Milar 2003 etwa)15 erwähnen trotz seines enormen Einflusses Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, nicht als wissenschaftlichen Psychologen. Das steht ganz im Gegensatz zu seinem Selbstverständnis; Psychoanalyse hat im Raum akademischer Psychologie von heute jedoch einen schweren Stand. Die zentrale Errungenschaft Freuds war die Entdeckung und Ergründung des sog. Unbewussten. Als Geburtsstunde der Psychoanalyse gilt die Veröffentlichung seines Werkes «Traumdeutung» 1900, als Beginn eines neuen Jahrhunderts und wissenschaftlichen Zeitalters. Der Traum galt Freud als Königsweg zum Unbewussten, dessen Entdeckung als narzisstische Kränkung der Menschheit. Denn nach der kopernikanischen Entdeckung, dass die Erde nicht die Mitte des Weltalls sei, und nach Darwins Kränkung, dass der Mensch vom Affen abstamme, zeige die Psychoanalyse nun, dass der Mensch nicht einmal Herr im eigenen Hause ist, sondern, ohne es zu bemerken, von unbewussten Wünschen, Trieben und Hemmungen bestimmt wird. Dies gelte nicht nur in Fällen psychischer Störungen, sondern auch in unserem Alltagsleben. Darum entwickelte Freud in einem kontinuierlichen Prozess von Vertiefungen und Revisionen die Psychoanalyse als dreierlei:

«Psychoanalyse ist der Name 1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.»16 Als solche wissenschaftliche Disziplin ruhte sie für Freud auf drei Grundpfeilern:

«Die Grundpfeiler der psychoanalytischen Theorie.

Die Annahme unbewusster seelischer Vorgänge, die Anerkennung der Lehre vom Widerstand und der Verdrängung,

die Einschätzung der Sexualität und des Ödipus- Komplexes

sind die Hauptinhalte der Psychoanalyse und die Grundlagen ihrer Theorie, und wer sie nicht alle gutzuheissen vermag, sollte sich nicht zu den Psychoanalytikern zählen.»17

In diesen Definitionen («Abgrenzungen») deuten sich Freuds Konflikte mit ehemaligen Weggefährten wie Alfred Adler und Carl Gustav Jung an. Anstelle der zentralen Rolle des Sexualtriebes sah Alfred Adler die Minderwertigkeitsgefühle und ihre Auswirkungen als viel bedeutender an. Carl Gustav Jung relativierte den Sexualtrieb ähnlich und ergründete Archetypen aus dem kollektiven Unbewussten der Menschheitsgeschichte in ihrer Bedeutung für die psychischen Störungen und für die Selbst-Verwirklichung des Menschen.

Bis heute von sehr grossem Einfluss – in Wissenschaft, Psychiatrie und Psychotherapie wie auch in der Gesellschaft – ist Freuds Religionskritik, wie er sie seit seinem ersten religionspsychologischen Artikel 1907 entwickelt hat: Demnach wirkt Religion – knapp zusammengefasst – wie eine kollektive Zwangsneurose und ist ein Produkt infantiler Wünsche, deren sich ein gesunder, erwachsener und gebildeter Mensch entledigen muss.18

d) Als vierte Entwicklungslinie der Psychologie von höchster Bedeutung ist der Behaviorismus bzw. die Lernpsychologie zu nennen, als deren Pioniere John Broadus Watson (1878–1958) und Frederic Burrhus Skinner (1904–1990) gelten. Während Wundt sich für die Struktur des Bewusstseins interessierte, Freud für die Dynamik des Unbewussten, lenkte diese Richtung ihren Blick nur auf das beobachtbare Verhalten. Watson19 schrieb darum in seinem berühmten Artikel: «Psychology, as the behaviorist views it, is a completely objective experimental branch of natural sciences. Its goals are the prediction and the control of behavior.» Darum war Watson mehr daran interessiert, kontrollierte Tierexperimente durchzuführen, und betrachtete Behaviorismus als «a direct outgrowth of the work on animal behavior».20

Skinner führte seinen Ansatz fort und betrachtete alles menschliche Leben als eine «blackbox», deren Vorgänge ihn nur im Blick auf die Zusammenhänge von Reizen und Reaktionen interessierten. Kognitive Vorgänge konnten für ihn keine Ursachen für beobachtbares Verhalten sein. Dieses war stets das Ergebnis von Lernvorgängen, von (klassischen oder operanten) Konditionierungen, die Verhalten verstärken, schwächen oder löschen. Sein Denken bewegte sich «Jenseits von Freiheit und Würde»,21 Begriffen, die in seinem wissenschaftlichen Denken über den Menschen keinen Platz hatten. In ihren Grundideen und kognitiv gewendeten Weiterentwicklungen wird diese Psychologie heutzutage erfolgreich eingesetzt als Lernpsychologie und in Verhaltenstherapien. Obwohl Behaviorismus am meisten als Psychologie ohne Seele bezeichnet werden kann, wird er als «the hallmark of modern psychology»22 betrachtet, als Markenzeichen moderner Psychologie.

Es hätte keinen «Syllabus errorum» Pius’ IX. 1864 und keinen Antimodernisteneid Pius’ X. seit 1910 gebraucht, um Spannungen und Konflikte solcher Psychologie mit christlichen Glaubensauffassungen zu erkennen. Beide Dokumente ängstlicher Abwehr wissenschaftlicher Entwicklungen machten es katholischen Intellektuellen jedoch mehr als schwer, sich in dieser neuen humanwissenschaftlichen Disziplin zu engagieren, wollten sie sich nicht ständig im Zwiespalt mit der Kirche fühlen. Die lehramtliche Abwehr und damit verbundene innerkirchliche Repression führte zu einer Kluft zwischen Wissenschaften und Kirche samt Theologie. Die Wissenschaften lehnten ihrerseits jeden Anspruch von Autorität und Kompetenz der Kirche in ihrem Feld ab, ebenso jeden kirchlichen Versuch, die Freiheit des Denkens und der Forschung zu begrenzen. Umso mehr wirkte sich dies auf den Klerus und die Priesterseminaristen aus und blockierte vielfach ihre wissenschaftliche Neugier und Lernbereitschaft. Solche Repression erzeugte ihre eigenen Probleme und Befreiungsbewegungen, die dann fast notwendig auch über das Ziel hinausschiessen konnten.

Das mögen zwei Beispiele illustrieren.

– Am 15. Juli 1961 erliess das Heilige Offizium mit Zustimmung von Johannes XXIII. ein Monitum, das u. a. Klerikern und Ordensleuten untersagt, als Psychoanalytiker zu praktizieren. Ebenso wird abgelehnt, dass Seminaristen psychoanalytisch auf ihre Eignung für den Priesterberuf untersucht werden sollten; eine Psychoanalyse zu machen, wird nur aus schwerem Grund und mit Erlaubnis der Vorgesetzten erlaubt.

– Im Oktober 1965 reagiert der Heilige Stuhl auf ein Projekt in dem Benediktiner-Kloster Santa María de la Resurrección, Cuernavaca, Mexiko. Ab 1961 fand dort ein psychoanalytisches Experiment statt, auf Initiative und im Auftrag des aus Belgien stammenden Priors Gregoire Lemercier, mit den Psychoanalytikern Frida Zmud und Gustavo Quevedo (beide nicht katholisch). Lemercier war überzeugt, die Psychoanalyse helfe, den Glauben und die Berufung zu «reinigen» von unreifen und unfreien Motivationen. Die Gemeinschaft unterzog sich freiwillig Gruppenpsychoanalysen; sie führten zum Austritt von vierzig der sechzig Ordensleute. Bezeichnend ist die Kommentierung aus psychoanalytischer Sicht: «Den meisten der von ihr therapierten Mönchen gelang es, sich aus der Abhängigkeit von der klösterlichen Gemeinschaft zu lösen und einer beruflichen oder künstlerischen Tätigkeit zuzuwenden.»23 Lemercier wurde nach Rom einbestellt (vgl. Time 1966), eine Kommission wurde zur Untersuchung eingesetzt, das Experiment durch Intervention des Heiligen Stuhls im Oktober 1965 beendet – nicht lange nach der eingangs zitierten Intervention des Bischofs von Cuernavaca, der dieses Experiment unterstützt hatte und trotz dieser Auswirkungen den Beitrag der Psychoanalyse weiterhin positiv einschätzte. Am 18. Mai 1967 suspendierte Paul VI. P. Lemercier, am 11. August 1967 wurde das Kloster geschlossen.

Beide Beispiele lassen die hier fokussierte, im zweiten Teil dieses Aufsatzes in der nächsten SKZAusgabe aufgeführte und erklärte Bemerkung in GS 62 umso bedeutsamer und erstaunlicher erscheinen.

 

 

 

 

 

1 Der Beitrag geht weitgehend zurück auf einen Vortrag für die Frühlingstagung 2013 der Akademischen Arbeitsgemeinschaft AAG, die im Priesterseminar St. Beat am 23. März 2013 abgehalten wurde. Grosse Teile davon fliessen auch ein in einen Artikel für die FS Hubert Windisch 2014: Klaus Baumann: Der Beitrag von Sozial- und Humanwissenschaften zum Leben von Glaube und Kirche, in: Michaela Christina Hastettler u. a. (Hrsg.): An der Bruchlinie von Kirche und Welt. Pastoral im Heute. Festschrift für Hubert Windisch. Regensburg 2014, 191–208.

2 Vgl. Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II, vol. IV/2, 625–627. Vgl. Pastoral Psychology 16 (1965) No. 8, 53.

3 Vgl. Giuseppe Alberigo / Günther Wassilowsky (Hrsg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, Bd. 5: Ein Konzil des Übergangs: September – Dezember 1965, 171, Fn. 392.

4 Vgl. Peter Hünermann (Hrsg.): Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute. Freiburg 2006; Hans-Joachim Sander: Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4 (2005), 581–886; John W. O’Malley: What Happened at Vatican II. Cambridge Mass. 2008; Jan-Heiner Tück (Hrsg.): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg 2012.

5 Philip Zimbardo / Richard Gerrig: Psychologie. Ein Lehrbuch, Berlin u. a. 71999, 2.

6 Vgl. Doris Nauer: Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart 2001; Doris Nauer: Seelsorge. Sorge um die Seele. Stuttgart 2007.

7 Vgl. meinen Beitrag: The Birth of Human Sciences, especially Psychology, in: Paul Gilbert (Ed.): L’uomo moderno e la Chiesa (= Analecta Gregoriana, 317). Rome 2012, 391–408.

8 Für differenzierte Darstellungen sei für die einzelnen Autoren verwiesen auf das Historische Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde. Darmstadt 1971–2007.

9 Vgl. zu Descartes und Locke: Miles Hewstone / Frank D. Fincham / Jonathan Foster (ed.): Psychology. New York 2005, 2–21, hier 10.

10 Vgl. Alfred H. Fuchs / Katherine S. Milar: Psychology as a Science, in: Irving B. Weiner (Ed.): Handbook of Psychology. Vol. 1: History of Psychology. New Jersey 2003, 1–26, hier 1.

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. Positivismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 7, 1118 f.

13 Vgl. Hewstone et al. (wie Anm. 9), 10.

14 Vgl. Harald Walach: Psychologie – Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch, Stuttgart 22009.

15 Z.B. das historische Kapitel von Fuchs-Milar (wie Anm. 10).

16 Sigmund Freud: «Psychoanalyse » und «Libidotheorie » [1923a], in: GW XIII, 211.

17 Ebd., 223.

18 Sigmund Freud: Zwangshandlungen und Religionsübungen [1907b], in: GW VII, 129–139. Vgl. Klaus Baumann: Zwangsstörung und Religion aus heutiger Sicht, in: Fortschritte Neurologie Psychiatrie 75 (2007), 587–592.

19 John Broadus Watson: Psychology as the behaviorist views it, in: Psychological Review 20 (1913), 158–177.

20 1919, zitiert in: Robert S. Woodworth: John Broadus Watson 1878–1958, in: The American Journal of Psychology 72 (1959), 301–310, hier 306.

21 So der programmatische Titel eines seiner auch ins Deutsche übersetzten Bücher (Reinbek 1973).

22 Hewstone et al. (wie Anm. 9), 16.

23  http://bit.ly/1jCJl0k (30.07.2013; Psychoanalytikerinnen in Lateinamerika: Frida Zmud).

Klaus Baumann (Bild: konradsblatt-online.de)

Klaus Baumann

Prof. Dr. Klaus Baumann ist Direktor des Arbeitsbereichs Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit im Institut für Praktische Theologie der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. und übt im Auftrag der Erzdiözese Freiburg i. Br. eine psychotherapeutische Nebentätigkeit aus.