50 Jahre Humanae vitae – Rück- und Ausblick

«Der Kuss» (1886) von Auguste Rodin. (Bild: Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen, DK)

 

In der Regel finden päpstliche Enzykliken nur begrenzt öffentliche Aufmerksamkeit. Im Fall von Humanae vitae war das ganz anders. Als dieses Dokument am 25. Juli 1968 erschien, war das sofort eine Sensation. Dies hing mit dem Thema «Weitergabe des Lebens» und der Vorgeschichte zusammen. Die Enzyklika traf auf gespannte Erwartungen, nachdem Papst Paul VI. diese Frage dem Zweiten Vatikanischen Konzil entzog und einer speziellen Kommission zugewiesen hatte.

Die Entscheidung Pauls VI. fiel anders aus, als viele Bischöfe, Theologen, Laien und Seelsorger erwartet hatten. Sogar die weit überwiegende Mehrheit der Kommission, zu der sehr angesehene Theologen zählten, hielt eine Änderung der kirchlichen Position für möglich und liess dem Papst bereits 1966 einen entsprechenden Textvorschlag samt Gutachten und einer Erklärung überreichen. Nur eine Minderheit widersprach und reichte nachträglich ein Votum ein, in dem sie das Argument vertrat, jede Veränderung einer so lange vertretenen Lehre müsse die Autorität von Doktrin und höchstem Amt beschädigen. Zwei Jahre rang Paul VI. mit sich und einigen wenigen Beratern, unter denen der Krakauer Kardinal Karol Wojtyla besonders einflussreich war, bis er sich sicher glaubte, dass einige der erörterten Lösungsvorschläge «von der Ehemoral, wie sie vom kirchlichen Lehramt bestimmt und beständig vorgelegt wurde, abwichen» (HV 6).

Das Echo im ereignisreichen und unruhigen Jahr 1968 kam umgehend und heftig: Enttäuschung, Empörung, heftiger Widerspruch, da und dort auch Zustimmung, überall Diskussionen – ausserhalb und (das war neu!) auch innerhalb der Kirche. In vielen Ländern sahen sich die Bischöfe genötigt, die Wogen der Aufregung durch gemeinsame Erklärungen zu glätten. Die erste dieser Erklärungen, in denen die Enzyklika u. a. dahingehend erläutert wurde, dass die Gläubigen nach reichlicher Gewissensprüfung auch zu einem anderen Urteil kommen könnten und dass die Seelsorger ein derartiges Gewissensurteil zu respektieren hätten, war die sogenannte Königsteiner Erklärung der deutschen Bischöfe vom 30. August 1968. Ihr folgten in kurzen Abständen Stellungnahmen der belgischen, der österreichischen, der Schweizer, der italienischen, der französischen und zahlreicher anderer Bischofskonferenzen.

Je nachdem, mit welchen Erwartungen man heute an diese Problemfelder herangeht, verändert sich auch der Sinn des Gedenkens und Innehaltens. Ist diese Enzyklika vielleicht nur noch ein Kapitel vergangener Kirchengeschichte oder ist sie mahnende Chiffre für einen Streit, der zerstörte Hoffnungen, tiefe Verwundungen und eine Reihe von gebrochenen Biografien hinterliess? Oder ist sie Inbegriff einer Kirchenpolitik, die eine ethische Position, der grosse Teile der Gläubigen die innere Zustimmung verweigern, zu einem entscheidenden Bestandteil des christlichen Glaubens machen wollte? Oder ist Humanae vitae der Inbegriff für viele ungelöste Probleme des Aufeinanderhörens und Sichverständigens? Die Enzyklika bleibt mit ihrer Wirkungsgeschichte bis auf Weiteres ein anstössiges Dokument.


Konrad Hilpert*

 

*Prof. em. Dr. Konrad Hilpert (Jg. 1947) studierte Philosophie, katholische Theologie und Germanistik in Freiburg i. Br. und München. Er war von 1990 bis 2001 Professor für praktische Theologie und Sozialethik an der Universität Saarbrücken, von 2001 bis 2013 Ordinarius für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und von Frühjahr 2016 bis Sommer 2017 lehrte er als Gastprofessor an der Universität Luzern. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich systematische Ethik, Ethik der Menschenrechte, Beziehungsethik, Bioethik und Wissenschaftsgeschichte der theologischen Ethik.