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Editorial

Frau ohne Leidenschaft
 

«Vor uns erstreckte sich nichts als ebener, harter Sand. Jamila zuckte kurz mit den zarten Ohren, und legte dann los: Die Vollblut-Araberstute glitt mit weitausgreifendem, weichem, kraftvollem Trab dahin, als trüge sie nichts, und wechselte mit zwei kleinen Hüpfern in einen Galopp, der alles übertraf, was ich jemals auf einem Pferd erlebt hatte. In scheinbar müheloser Perfektion flogen wir dahin, federnd, luftig, den Boden nur noch in grossen Abständen kurz berührend. Wind kühlte mein Gesicht, mein Herz füllte sich mit purer Freude und vollkommenem Glück!» Mein Gegenüber, dem ich dieses horizonterweiternde Ereignis in der jordanischen Wüste tief bewegt berichtete, brach unvermittelt in Tränen aus. Perplex fragte ich nach, mir keines Fehlers bewusst: «Du hast diese Leidenschaft mit den Pferden, die dich brennen lässt und dich mit gleissender Lebensfreude erfüllt, ich aber habe nichts, nicht das Geringste, was mich begeistert, mir Flügel wachsen lässt oder mich so gefangen nimmt, dass ich an nichts anderes mehr denken kann.» Und die Tränen flossen noch ergiebiger. Verzagt betrachtete ich diese 30-jährige, hübsche, erfolgreiche und sympathische Frau. Nie im Leben hätte ich von ihr solch eine Reaktion erwartet. Und ich hatte mir auch nie überlegt, was es heisst, keine Leidenschaft zu haben. Ich erkannte, wie begnadet ich doch bin. Nur: Was sollte ich nun meinem Gegenüber raten? «Siddhartha» von Hermann Hesse? Letzte Woche brach sie nach Marokko auf. Möge Gott ihr die Gnade erweisen.
 

Brigitte Burri