«Er suchte Gott und fand den Tod»

Die staatliche Obrigkeit Luzerns verurteilte 1747 Jakob Schmidlin (*1699) als «Ketzer» zum Tod. Anton Schwingruber und David Neuhold geben im Gespräch Einblicke in das Leben des «Sulzigjoggi», dieses pietistisch inspirierten, katholischen Gottsuchers.

PD Dr. theol. David Neuhold (Jg. 1976; links) ist Kirchenhistoriker. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter ist er an der Professur Spiritual Care in Zürich sowie bei der Schweiz. Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte in Freiburg i. Ü. tätig. Er ist ebendort, Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte ebendort sowie an der Universität Luzern. Dr. iur. Anton Schwingruber (Jg. 1950) ist Rechtsanwalt. Er war von 1995 bis 2011 Regierungsrat des Kantons Luzern, davon leitete er acht Jahre Jahre das Volkswirtschaftsund acht Jahre das Bildungs- und Kulturdepartement. Er befasst sich seit jungen Jahren mit der Geschichte des Jakob Schmidlin. (Bilder: zvg)

 

SKZ: Herr Schwingruber, Sie haben sich intensiv mit Person und Leben Jakob Schmidlins auseinandergesetzt. Wer war Jakob Schmidlin?
Anton Schwingruber (AS): Der Verdingbub aus dem Luzerner Hinterland kam in jungen Jahren zum hablichen Bauern und Wundarzt Augustin Salzmann nach Werthenstein, hörte und erlebte dort die Skepsis gegen die Kirche, lernte bei seinem Fuhrknechtwesen interessante Leute anderer Religionen und Regionen kennen und war von der Vielfalt der Glaubensansichten offensichtlich tief beeindruckt. Er bemühte sich, sich eine eigene Ansicht über das persönliche Glaubensleben anzueignen und das auch andern mitzuteilen. Er vertrat die Meinung, dass man nicht nur im katholischen Glauben selig werden könne. Die Sakramente, vor allem die Beichte, und die Heiligenverehrung relativierte er massiv, was den Kirchenvertretern und der Obrigkeit arg missfiel. Es galt zu dieser Zeit ja der Grundsatz «cuius regio, ejus religio».

Herr Neuhold, weshalb kam es zum Prozess?
David Neuhold (DN): Es handelte sich um einen Massenprozess. Nicht nur Schmidlin wurde verurteilt, sondern an die 80 weitere Personen. Immer wieder wurden neue Personen denunziert, aber nur Schmidlin wurde dem Feuer «übergeben», nachdem man ihn «gnädigerweise» strangulierte. Seine Überreste wurden in die Reuss geworfen, damit gar nichts von ihm übrigbleibe. Feuer und Wasser sollten ihre elementare und tilgende Kraft walten lassen. Es gab mehrere Gründe für diesen Prozess: Grenzen wurden überschritten, im konkreten wie im übertragenen Sinne. Luzern hatte Angst vor Bern und den reformierten Ständen, nachdem letztere nach dem Zweiten Villmergerkrieg 1712 die Oberhand gewonnen hatten. Schmidlin selbst wurde schon 1739 angeklagt, aber freigesprochen. So war er 1747 ein «Hartnäckiger», quasi ein «Unbelehrbarer». Die katholisch barocke Frömmigkeitspraxis war ihm zu oberflächlich. Die wiederholte Anklage wog natürlich schwer, ebenso die Tatsache, dass Schmidlin verbotene Bücher kaufte und besass, er sich also selbst «bemächtigte» und das in einer Zeit, wo man die allgemeine Schulpflicht noch für die bestehende Ordnung als gefährlich und umstürzlerisch ansah. Nicht vergessen werden darf, dass es Missgunst aus den Hauskreisen heraus gab. Zumindest Fridolin Disler, ehemaliger «Pietist», denunzierte eifrig. Schliesslich müssen wir auch sehen, dass der Prozess nicht isoliert dasteht. Es gab schon vor dem Schmidlin-Prozess unruhige Verhältnisse im Umkreis von Werthenstein, Wolhusen und Ruswil, wie auch danach. Das Schmidlin-Urteil statuierte einen klaren Anspruch – auf Region und Religion zugleich! Und die Todesstrafe in «Malefiz»-Prozessen war allgemein noch gang und gäbe.    

Nicht die Kirche, sondern die staatliche Obrigkeit führte den Prozess.
AS: Die Obrigkeit liess keinen Widerspruch zu. Vielmehr versuchte sie in aller Härte, Widerstand im Keime radikal zu ersticken. Sie ging davon aus, dass ein kirchliches Gericht allenfalls zu large urteilen würde, deshalb wollte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, hier ein unmissverständliches Zeichen zu setzen. Der Prozess bis zur Hinrichtung und den nachfolgenden Verlautbarungen und Weisungen, die dann alljährlich in der Kirche verlesen werden mussten, sprechen eine sehr deutliche Sprache.  

Welche Rolle spielte denn die Kirche im Prozess?
DN: Es ist schwierig, in diesem Zusammenhang von «der» Kirche zu sprechen, auch wenn dies bis heute gerne getan wird. Nicht erst in unserer Gegenwart ist die Kirche eine komplexe, vielfältige Gemeinschaft, theologisch gesehen, und soziologisch besehen eine Gesellschaft mit vielschichtigen, manchmal sogar divergierenden Gruppen und Interessen. Allein wenn nur ein enger, hierarchischer Kirchenbegriff verwendet wird, zeigt sich enorme Komplexität: Da gibt es den Nuntius in Luzern, der versucht, den Prozess an sich zu ziehen; da gibt es den Bischof in Konstanz, der sich, nachdem, was wir einsehen konnten, nicht so sehr für den Fall interessiert – wenn, dann eher sein Kommissar vor Ort. Dann gibt es da einen lokalen Weltklerus in der Seelsorge und einen Ordensklerus, der in andere Zusammenhänge als nur den örtlichen eingebunden ist. Was ich sagen will: Man scheint sich nicht ganz einig gewesen zu sein. Die für die Seelsorge vor Ort zuständigen Kleriker waren es auf jeden Fall nicht. Manche etwa sahen in Schmidlin einen engagierten Christen, würde man heute wohl sagen, andere sahen ihn als einen Abgesandten der Hölle, als Unkraut. Im Laufe der Zeit gewannen die Scharfmacher Oberwasser. Eine meiner Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit diesem Prozess ist: Die Falken setzten sich gegen die Tauben durch, die «zelanti» gegenüber den «politici», auch in den «Gutachten», also zu einem Zeitpunkt, wo die Sache eigentlich schon gelaufen war. Gutachter haben oft ein sensibles Gespür für das, was erwartet wird und kommt. Im Nachhinein gab es dann gar keinen Protest. Eine Art heilsgeschichtliche Deutung setzte sich durch: Der «rechte Arm des Herrn» sei endlich und segensreich zum Durchbruch gekommen, das Unkraut ist ausgerissen! Dem war freilich nicht ganz so.

Werthenstein war damals nach Einsiedeln der zweitgrösste Wallfahrtsort der Eidgenossenschaft. Welche Rolle nahm dieser Wallfahrtssort im Leben Jakob Schmidlins ein?
AS: Da er als Fuhrmann für den Wirt und Verwalter des Klosters tätig war, hatte er gewiss einen speziellen Zugang zur Lebens- und Verhaltensweise des Klosters. Die übertriebene Verehrung der Muttergottes und den Anspruch der alleinseligmachenden Kirche konnte er nicht nachvollziehen, da er doch engen Kontakt zu Reformierten, Pietisten und Separatisten hatte und deren Lebens- und Glaubensüberzeugungen ihm wohl sogar einleuchtender waren als diejenigen der absolutistischen katholischen Repräsentanten und Anhänger, speziell der gläubigen Wallfahrerinnen und Wallfahrer. Ihm schwebte eine Verschmelzung der diversen Glaubenslehren vor.

Der Luzerner Historiker Hans Wicki nannte ihn einen Gottsucher. Als was sehen Sie Jakob Schmidlin?
AS: In meiner Kindheit – aufgewachsen auf der Nachbarliegenschaft – kannte ich nur den Namen «Sulzigjoggi». Seine Geschichte kannte man nicht. Das war ein Tabuthema. Vom Falschmünzer bis zum Zauberer hörte man alles. Er war für mich eine schauderhafte Person. Mit dem Studium seiner und der damaligen Geschichte wuchs in mir der Respekt vor dieser aussergewöhnlichen Persönlichkeit. Kommt dazu, dass seine Überzeugungen zu Glaubenssachen sich sehr stark mit der heutigen und meiner Auffassung deckten. Anlässlich eines vielbeachteten und erfolgreichen authentischen Theaters zu seinem 300. Geburtstag auf seinem Hof Sulzig 1999 entstand der treffende Titel: Er suchte Gott und fand den Tod.

Welche Rezeptions- und Wirkungsgeschichte schreibt dieser Prozess?
DN: Der Prozess hat in vielen Archiven Spuren hinterlassen. Wir haben jüngst solche in Rom gefunden. Die Ordensgemeinschaften hatten schon damals transnationale Netzwerke. Diplomatische Kanäle wurden bedient. Spanische Gesandte berichteten Schmidlins Schicksal z. B. nach Hause. Es war eine heisse Angelegenheit in der Zeit, die konfessionell bestimmt war. Schmidlin wurde auch als Märtyrer gesehen, z. B. in einer in Germantown/Philadelphia 1748 gedruckten Schrift. Dazu waren Zürcher Geistliche wenig erfreut über diese intolerante Vorgangsweise – die Luzerner verspürten gleich einen Rechtfertigungsdruck. Kirchliche wie staatliche Akteure verfassten apologetische Schriften. Man rechtfertigte sich, wie der Luzerner Stadtpfarrer Gallus Anton Frener, und hatte vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen. So erstaunt nicht, dass die Causa später ausgeschlachtet wurde. In der Historiografie wird das Sujet sodann gerne aufgenommen, bis heute. Man ist zu sagen veranlasst, je nach Gusto der Zeit und des Kontextes wird etwas anderes hervorgeholt. Z. B. ist ein verbreiteter Antiklerikalismus bzw. ein Antijesuitismus erkennbar. So in der sonst sehr akribisch und historisch penibel gearbeiteten Studie von Alfred Steiger 1889, zur Zentenarfeier der Revolution gewissermassen. Jede Historikerin und jeder Historiker lässt, mehr oder weniger, auch eigene Urteile einfliessen, bewusst oder unbewusst. Damit müssen wir leben. Prof. Hans Halter hat 2002 ein wichtiges Werk herausgegeben.1 Im Grossen und Ganzen scheint uns die bisherige Rezeption der Ereignisse eher auf den Schweizer Kontext eingegrenzt zu sein. Vielleicht ändert sich das mit unserem Filmprojekt (siehe Kasten auf Seite 526) etwas!

Was war Ihnen wichtig bei der Bearbeitung dieses anspruchsvollen Themas?
DN: Das Thema beschäftigt mich seit Jahren, besser gesagt die Person des Jakob Schmidlin. Der «personale Zugang» hat in der Kirchengeschichte Tradition. Aber eigentlich bin ich über eine Bibelstelle auf ihn gestossen. Es ging mir darum zu schauen, wie in Toleranzdebatten die Bibelperikope um Matthäus 13,30 in den verschiedenen Zeiten und Kontexten unterschiedlich ausgelegt wurde. Wie sollen wir mit dem Unkraut, mit dem «Taumellolch» im Weizenfeld umgehen, dem Sperrigen und dem Bösen? Sollen wir es ausreissen, wenn wir es vermögen? Im Umfeld des Prozesses von Schmidlin war die Unkrautmetapher, biblisch grundgelegt und in einer Agrarwelt selbsterklärend, schnell bei der Hand. Das hat mir zu denken gegeben, insbesondere weil kirchliche Vertreter dies so eingebracht haben. Aber es ist festzuhalten, dass die Obrigkeit von Luzern den Prozess führte und man mit dem Todesurteil klar ein Exempel statuieren wollte! Solche Prozesse sind letztlich Ausdruck von Macht und Durchsetzungsfähigkeit, nicht nur in Religionsdingen: Die Stadt Luzern bestätigte ihren Anspruch auf die ländlichen Untertanengebiete. Denn man hatte beständig Angst vor Unruhen und Aufständen. Und, dass Angst keine Grundlage guter Politik ist, das sieht man bis heute.

Welche Erkenntnisse sind für Sie bedeutungsvoll?
DN: Eine für mich interessante Erkenntnis war, wie grausam und ohne Erbarmen Menschen in Angelegenheiten umgehen konnten, die für die meisten von uns heute wohl absolut unproblematisch sind. Gott sei Dank haben sich die Zeiten in unseren Breiten geändert! Auf der anderen Seite haben wir die Gräuel des 20. Jahrhunderts. So pauschal kann diese Erkenntnis also nicht stehen bleiben. Grundsätzlich gilt, dass sich der Prozess von 1746/1747 sehr komplex, schillernd und ambivalent zeigt: Nicht für Jakob Schmidlin, weil er hingerichtet bzw. ermordet wurde. Wir können viele Vorwürfe und Vorhaltungen erkennen, die den Sulzigjoggi trafen. Es ist schwierig, diese alle zu untersuchen bzw. zu beurteilen. Lücken und Ungereimtheiten bleiben. Jedenfalls ist da ein – wie es Hans Wicki formulierte – «Gottsucher» konsequent seinen Weg gegangen. Der Sulzigjoggi war ein religiöser Mann, der seine Frömmigkeit und die seines Umfelds vertiefen wollte, das aber nicht in einer konfessionellen Hinsicht. Hier kam er an eine Grenze.

AS: Bei aller Grausamkeit dieser packenden Geschichte gilt es zu bedenken, dass die Obrigkeit nach den Wirren des Bauernkrieges und insbesondere des Zweiten Villmergerkrieges nicht nur in religiösen Dingen, sondern auch bei politischen Abweichlern keine Gnade kannte. Es sei nur bemerkt, dass nach dem Zweiten Villmergerkrieg im Jahre 1712, als unser Jakob Schmidlin 13-jährig war, z. B. ein Wirt aus Eschenbach wegen aufmüpfischen Aussagen über die Obrigkeit kurzerhand geköpft wurde. Sein Kopf wurde an einer Eisenstange vor dem Marktzugang in Luzern aufgespiesst, damit alle Marktbesucher lernen konnten, wie es gehen kann, wenn man gegen die Obrigkeit lästert. Zum Glück haben wir – in unseren Breitengraden – diese Zeiten überwunden.

Was kann uns die Geschichte Jakob Schmidlins heute sagen?
DN: Es wäre bestimmt schlau, nicht vorschnell Über-
träge auf das Heute hin zu vollziehen. Dann hätte man die Arbeit als Historiker bzw. als Historikerin verfehlt. Man würde anachronistisch vorgehen, die Geschichte verzwecken, instrumentalisieren. Wir leben heute zumindest in der Schweiz in ganz anderen Umständen und Zuständen als Mitte des 18. Jahrhunderts. Wir haben eine wichtige Humanisierung des Strafrechts durchlebt, eine andere Vorstellung von Religion und Toleranz ist vorherrschend. Aber Geschichte kann bleibend inspirieren und Fragehorizonte öffnen, auf individueller sowie auf kollektiver Ebene. Das Menschlich-Allzumenschliche in der Causa Schmidlin stimmt nachdenklich: Härte, Verbissenheit, Angst um Positionen und Denunziation. Kirchlich-religiös lehrt uns der Fall, wie aktiv engagiert im Destruktiven Menschen werden können – bei voller Überzeugung, das Beste zu tun! Juristisch-menschlich ist bedenklich, wie wichtig Denunziationen und Vorwürfe werden konnten und dass am Schluss noch gesagt wurde: Eigentlich ist es zwar so, dass Jakob Schmidlin tadellos und sittlich einwandfrei lebte, aber das sei Täuschung und Trug – den perfiden Ketzer auszeichnend und ihn ausmachend. Kurzum: Es ist eine traurige Geschichte, in der gesehen werden kann, wie wichtig rechtsstaatliche Strukturen und Institutionen sind!

AS: Die Begriffe Toleranz und Umgang mit dem sogenannten Fremden sind nach wie vor für Einzelne, die Gesellschaft und die Politik enorm wichtig. Eine Gesellschaft und der Staat können nur funktionieren, wenn sie glaubwürdig und respektvoll mit anderen Meinungen und Abweichlern umgehen. Wobei die grosse Frage bleibt, wie geht man tolerant mit Intoleranten um.

Interview: Maria Hässig

 

1 Halter, Hans (Hg.), Ketzer und Sekten – einst und heute. Toleranz und ihre Grenzen in Kirche, Gesellschaft und   Staat, Luzern 2002.

«Der letzte Ketzer – Die Geschichte von Jakob Schmidlin»: Der Film zeigt eine Suche nach Jakob Schmidlin. Es ist eine Reise durchs Entlebuch, Emmental, mit Halt in Werthenstein, Luzern und Bern. Unterwegs treffen wir Bauern, Professorinnen, Politiker und Pastorinnen. Es geht um Macht, Identität und Frömmigkeit. Wir suchen ein Gespenst aus längst vergangenen Tagen und finden im letzten «Ketzer» ein Stück Schweiz – von heute.

Regie: Manuel Dürr und Jan-Marc Furer
Konzept: David Neuhold, Gregor Emmenegger, Anton Schwingruber.
Produktion: Schwarzfalter GmbH, Biel;
Ko-Produktion: Zentrum für Glaube und Gesellschaft, Freiburg i. Ü.
Vorpremiere: 25. Januar 2022, 19.30 Uhr, Universität Freiburg i. Ü., Aula Magna, Dauer: 60 Minuten.
Kino- und Fernsehpremiere sind noch offen.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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